Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
entweder total richtig oder total falsch geantwortet habe? Meinen Sie das?«
»Sagen wir, eine 1«, sagte der Lehrer. »Aber das nächste Mal machst du deine Hausaufgaben.«
Als Sofie am Nachmittag aus der Schule nach Hause kam, warf sie ihre Schultasche auf die Treppe und lief sofort in die Höhle.
Hier lag ein gelber Briefumschlag auf den dicken Wurzeln. Seine Ränder waren ganz trocken; Hermes musste also schon vor einer ganzen Weile hier gewesen sein.
Sofie nahm den Briefumschlag und ging damit ins Haus. Erst fütterte sie die Tiere, dann ging sie auf ihr Zimmer. Sie legte sich aufs Bett, öffnete Albertos Brief und las.
Der Hellenismus
Schön, dich zu sehen, Sofie! Du hast schon über die Naturphilosophen Sokrates, Platon und Aristoteles gehört. Damit kennst du die Grundlage der europäischen Philosophie. Von nun an schenken wir uns deshalb die einleitenden Denkaufgaben, die du bisher in weißen Briefumschlägen bekommen hast. Aufgaben und Prüfungen gibt’s bei dir in der Schule genug, stelle ich mir vor.
Ich werde dir von dem langen Zeitraum zwischen Aristoteles am Ende des vierten Jahrhunderts vor Christus bis zum Beginn des Mittelalters um das Jahr 400 nach Christus erzählen. Du weißt, dass wir »vor« und »nach Christus« schreiben. Und zum Wichtigsten und Seltsamsten dieser Periode gehört gerade das Christentum.
Aristoteles starb im Jahre 322 vor Christus, und inzwischen hatte Athen seine Führungsrolle eingebüßt. Das hing nicht zuletzt mit den großen politischen Umwälzungen als Folge der Eroberungen Alexanders des Großen (356–323) zusammen.
Alexander der Große war König von Makedonien. Auch Aristoteles kam aus Makedonien, eine Zeit lang war er sogar Lehrer des jungen Alexander. Alexander errang den letzten, entscheidenden Sieg über die Perser. Und mehr noch, Sofie: Durch seine vielen Feldzüge verband er Ägypten und den ganzen Orient bis hin nach Indien mit der griechischen Zivilisation.
Jetzt beginnt eine ganz neue Epoche in der Geschichte der Menschheit. Eine internationale Gemeinschaft entstand, in der die griechische Kultur und die griechische Sprache eine dominierende Rolle spielten. Diese Periode, die etwa dreihundert Jahre dauerte, wird oft als das Zeitalter des Hellenismus bezeichnet. Unter Hellenismus verstehen wir die griechisch dominierte Kultur, die in den drei großen hellenistischen Reichen herrschte – in Makedonien, Syrien und Ägypten.
Seit etwa 50 vor Christus übernahm Rom die politische und militärische Vorherrschaft. Die neue Großmacht eroberte der Reihe nach alle hellenistischen Reiche, und von nun an regierten die römische Kultur und die lateinische Sprache von Spanien im Westen bis tief nach Asien hinein. Damit begann die Römerzeit , wir sprechen auch von der Spätantike . Aber du musst dir eins merken: Ehe die Römer die hellenistische Welt erobert hatten, war Rom selber zur griechischen Kulturprovinz geworden. Auf diese Weise sollte die griechische Kultur – und die griechische Philosophie – noch eine wichtige Rolle spielen, als die politische Bedeutung der Griechen schon längst vergessen war.
Religion, Philosophie und Wissenschaft
Der Hellenismus wurde durch das Verschwinden der Grenzen zwischen den verschiedenen Ländern und Kulturen geprägt. Früher hatten Griechen, Römer, Ägypter, Babylonier, Syrer und Perser ihre Götter im Rahmen ihrer je eigenen Religion verehrt. Jetzt wurden die verschiedenen Kulturen in einem einzigen großen Hexenkessel aus religiösen, philosophischen und wissenschaftlichen Vorstellungen vermischt.
Wir können vielleicht sagen, dass der städtische Marktplatz durch die Weltarena ersetzt wurde. Auch auf dem alten Marktplatz hatte es ein Gewirr von Stimmen gegeben, die bald ihre verschiedenen Waren, bald unterschiedliche Gedanken und Ideen feilboten. Das Neue war nun, dass die Marktplätze von Waren und Ideen aus aller Welt erfüllt wurden. Deshalb fand das Stimmengewirr in verschiedenen Sprachen statt.
Dass griechische Vorstellungen weit über die alten griechischen Gebiete hinaus ihre Wirkung hatten, haben wir bereits erwähnt. Aber nun wurden im ganzen Mittelmeerbereich auch orientalische Götter angebetet. Mehrere neue Religionen entstanden, die ihre Götter und religiösen Vorstellungen verschiedenen alten Kulturen entlehnten. Wir sprechen von Religionsmischung oder Synkretismus .
Früher hatten die Menschen sich ihrem eigenen Volk und ihrem eigenen Stadtstaat verbunden gefühlt. Nachdem solche Grenzen und
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