Sohn Der Nacht
Merrick stemmte sich schaudernd gegen eine Böe. Wie oft hatte er das nicht schon gesehen? Ständig war er danach auf der Suche; gewisser Weise lebte er nur dafür, Mörder zu finden, und doch schien der Schock dieser ersten Augenblicke nie gerin ger zu werden. Es beginnt aufs neue.
»Ist mit Ihnen alles in Ordnung, Detective?« rief der Prie ster hinter ihm.
»Ja«, erwiderte Merrick. Mühsam gewann er die' Fassung zurück und sah wieder zur Kathedrale hinüber. Im grellen Scheinwerferlicht schimmerte der Kalkstein weiß wie altes Gebein. Der Cop aus dem Streifenwagen faßte nach der Hut krempe und suchte Schutz unter einem Buntglasfenster des Lichtgaden. Darüber verlor sich die Flucht der Strebebögen, die den Lichtgaden mit dem Mittelschiff verbanden, im trei benden Nebel. Der Nebel schien zu seufzen, als der Wind ihn vor sich her trieb, durch die verborgenen steinernen Bögen. Weiter oben zerstob der Nebel zu einzelnen Fetzen, die über die Zinnen der Kathedrale davonjagten. Merrick wünschte sich, der verdammte Wind würde aufhören oder doch zumin dest ein wenig nachlassen. Mount St. Albans lag auf dem höchsten Hügel von Washington, und es schien, als wüte der Sturm hier besonders stark. Es hörte sich an, als stoße der Hügel einen Angstschrei aus. Geweihter Boden war geschän det worden.
Ein neuerlicher Windstoß schüttelte den Holunder und trug Merrick einen, feinen Geruch von Verwesung zu. Noch einmal schaltete er die Taschenlampe ein. Jogginganzug und Joggingschuhe; kastanienbraunes Haar, Mitte Zwanzig; wohl
hübsch - bevor irgend jemand sich mit den Zähnen über sie hergemacht hatte. Die Ausdruckslosigkeit ihres Gesichtes tat Merrick weh. Es war, als wäre ihr Körper jetzt leer. Und selbst so sprach er noch zu ihm.
Merrick holte Luft und strich sich mit den Handflächen über die Wangen, um dem beißenden Wind etwas von seiner Schärfe zu nehmen. Über ihm rollte der Donner.
»Wie kommt jemand dazu, so etwas zu tun?« fragte der Priester mit erstickter Stimme.
Merrick wandte sich um. Im geisterhaft tanzenden Licht wirkte das freundliche Gesicht des Mannes fast so weiß wie das des Leichnams. Es schien körperlos durch die Nacht zu schweben, und seine dunklen Kleider verschmolzen mit der dichten Baumgruppe jenseits des South Drive. Seine Augen sahen verquollen aus, und Merrick begriff, daß ihn die Ent deckung der Leiche hatte weinen lassen.
»Nichts kann jemanden dazu bringen, so etwas zu tun«, sagte Merrick. »Nichts.«
Der Priester wich vor ihm zurück, und Merrick wurde bewußt, daß seine Stimme wie ein Knurren geklungen hatte. Entschuldigend hob er die Hand, und die Schultern des Prie sters entspannten sich ein wenig.
»Warum hier?« murmelte der Priester. »Wollte der Killer etwa eine Botschaft hinterlassen?«
»Vielleicht war es so einfach am bequemsten«, sagte Mer rick, der sich diese Frage auch schon gestellt hatte.
»Glauben Sie, daß man das vor der Presse geheimhalten kann?«
»Wem haben Sie es bisher erzählt?«
»Niemandem. Morgen werde ich natürlich den Bischof informieren, aber er wird die ganze Angelegenheit mehr als jeder andere diskret behandelt sehen wollen.«
»Verstehe«, sagte Merrick.
»Es ist doch so, daß dieser Ort ein Denkmal der Schönheit und der Reinheit ist. Wir möchten nicht, daß er zu einem Magnet für schmutzige Sensationsgier verkommt.«
»Nein. Und ich bin nicht daran interessiert, Panik herauf zubeschwören.«
»Wenn aber derselbe Killer wieder zuschlägt, dann haben wir eine Verantwortung ...«
»Ja.«
Über der Kathedrale rollte wieder der Donner, als halte das Gewitter Ausschau nach einer Lücke in der dichten Wolken decke. Der Priester drückte sich den Mantelkragen gegen den Hals und blickte nach oben. »Merkwürdig«, sagte er, »so habe ich es noch nie gesehen.«
»Ich bin überrascht, daß jemand in einer solchen Nacht noch so spät draußen ist«, sagte Merrick, ohne ihn anzusehen.
Der Priester ließ ein leises Knurren hören. »Nicht zum Spaß, das versichere ich Ihnen. Ich hatte Angst um die Bunt fenster. Der Hut flog mir vom Kopf und direkt in das Gebüsch da, und ich bin hingegangen, um ihn zu holen ...« Er verzog das Gesicht.
Merrick fragte sich, wie lange die Leiche unter dem Holun der gelegen hatte? Das Buschwerk war so dicht, daß man die Leiche vom Weg aus, der sich rings um die Kathedrale zog, nicht sehen konnte. Sehr stark war der Geruch nicht, aber in den letzten Tagen war es kühl und trübe gewesen, wodurch
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