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Sohn der Unendlichkeit

Sohn der Unendlichkeit

Titel: Sohn der Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Kneifel
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Ikaroserlebnis. Ein Mensch der Erde, der sich nach dem Schild des Dädalos gerichtet hatte, war abgestürzt und lag mit zerschmetterten Knochen auf der Bühne des Theaters.
    Dorian Variatios Mission war beendet … erfolglos.
     
    *
     
    Als Icarea und Icaras, das Glückliche Paar, sich vom Rand ihres Horstes schwangen und in den Bereich der morgendlichen Kaltluft kamen, ahnten sie, daß der Fremde in seinen silbernen Schuppen mit diesem Phänomen der Zentralinsel nicht zurechtkommen würde.
    Sie konnten nicht wirklich fliegen, aber sie waren die besten Schweber, die von der Natur der Milchstraße jemals hervorgebracht worden waren. Die beiden Jungen arbeiteten wie rasend mit ihren Schwingen, um den Fremden noch zu erreichen, aber hundert Mannslängen über ihm mußten sie hilflos zusehen, wie er kantete, abstürzte und sich mit bemerkenswerter Raffinesse rettete. Die Säule, die siebente von links, war indes sein Verderben.
    »Wir hätten, nachdem uns das Kind von dem Würfel erzählte«, sagte Icaras, als er dicht über Icarea schwebend sich dem Theater näherte, »aufpassen sollen. Vielleicht wäre es uns gelungen, den Fremden in einer höheren Luftschicht abzufangen.«
    Icarea drehte den Kopf, lächelte kurz und rief leise:
    »Vielleicht! Aber wir sollten den Fremden ohne Umwege zum Weisen bringen. Er wird wissen, wer zu rufen ist!«
    »Einverstanden, liebste Icarea!«
    Sie drehten sich in engen Kreisen abwärts. Die anderen Flieger, die den Absturz beobachtet hatten und nicht verhindern konnten, weil der Fremde, auf den sie schon seit den ersten Tagen der Kindheit gewartet hatten, zu schnell und zu schräg gefallen war, drehten über den beiden Liebenden ihre Kreise und spähten aufmerksam hinunter.
    Icaras und Icarea hielten genügend Abstand, als sie kurz und wirbelnd mit den Schwingen schlugen. Sie schraubten sich aus dem Kaltluftstrom hinaus, bewegten die schlanken Beine und landeten, indem sie zu laufen begannen und, als ihre Zehen die kühlen Steine berührten, die Schwingen ausbreiteten. Die Geschwindigkeit wurde abgebremst. Als aus dem schnellen Lauf ein Gehen geworden war, falteten sich die Schwingen zusammen und legten sich eng an den Rücken, die Lenden und Beine an. Die Schwungfedern berührten die Fesseln der Beine. Die langen, breiten Federn brauchten nicht viel Platz und verschwanden fast mit der Haut der beiden Körper in einer Ebene.
    »Er liegt da, als ob alle seine Knochen gebrochen wären!« sagte Icaras und blieb stehen, während sich Icarea niederkniete und den Fremden flüchtig untersuchte. Sie drehte den Kopf, sah ihren Geliebten mit dunklen Augen an und versicherte:
    »Wir brauchen ein Netz. Wir bringen ihn am besten zum Weisen. Snekoin wird wissen, ob Krates zu holen ist.«
    Icaras nickte, steckte drei Finger in den Mund und stieß eine Folge gellender Pfiffe aus. Die anderen Flieger verstanden, und ein Teil von ihnen raste in tollkühnem Sturzflug auf den »Horst« dicht unterhalb des Gipfels zu.
    Kurze Zeit später hoben sie den Fremden auf das ausgebreitete Netz und berieten sich kurz. Acht von ihnen ergriffen die Leinen, befestigten sie an den Gürteln und nickten sich zu. Sie rannten synchron los, stürzten sich mit gebührendem Abstand voneinander und mit ausgebreiteten Schwingen von der Terrasse des Theaters und mitten in den kalten Luftstrom hinein. Sie fielen mit der bewußtlosen Last schnell dem Wasser entgegen, steuerten auf ein kurzes Kommando von Icaras aus dem Luftstrom hinaus und in einen heißen, feuchtigkeitsgesättigten Aufwind hinein und vollführten genau sieben Schleifen. Dann landeten sie, unendlich vorsichtig, auf der Terrasse der obersten Plattform und schleppten den Fremden in den Horst hinein.
    Kassandros kam aus seinem Haus, warf einen langen, nachdenklichen Blick auf den bewußtlosen Fremden und sagte laut und deutlich:
    »Ich sehe, daß sich der Kreis geschlossen hat. Der blinde Ikaros ist heimgekehrt, Freunde!«
    Dann lächelte er.
    Es war das Lächeln eines Mannes oder eines Wesens, das eine erhebliche Menge reiner Weisheit besaß und eine Kenntnis der Dinge, die über den Horizont des Normalen weit hinausging. Es schien, als sei dieser Mann ein Beobachter des tödlichen Fluges von Dädalos Sohn Ikarus gewesen, als Vater und Sohn über Kreta kreisten.
    Aber das war natürlich völlig unmöglich.
    Niemand lebte so lange …
    Er hatte versagt. Dieses Gefühl war der erste Impuls, der sein Bewußtsein erreichte, als er wieder zu sich kam. Vor den Augen einer

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