Sohn der Verdammnis: Die Chronik der Erzengel. Roman (German Edition)
missfällig.
»›Ruhestand‹ ist ein Wort, das nur Madam Lilian benutzte, glaube ich.«
»Nein, Maxim.« Tante Rosemary funkelte ihn an. »Sie hat nichts von Ruhestand gesagt. Sie hat nur davon gesprochen, dass Sie sich einen wohlverdienten Urlaub gönnen sollten.«
Maxim warf einen leidgeprüften Blick zu Jason.
»Ich habe zu Madam Lilian gesagt«, erklärte er steif, »wenn meine Dienste nicht mehr gefragt seien, müsse ich wohl davon ausgehen, dass meine Fähigkeiten nachließen. Ich bin seit über fünfunddreißig Jahren im Dienst dieser Familie …«
»Ist ja schon gut, Maxim.« Jason unterdrückte ein Lächeln. »Sie sind ein Teil des Inventars. Wie könnte Mutter ohne Sie auskommen?«
»Nun, ich gehe dann«, erklärte Tante Rosemary und nahm Jasons Schirm. »Ich habe mich bei meiner Nichte einquartiert. Dachte, ich sollte dir und deiner Mutter ein wenig Privatsphäre gönnen.«
Tante Rosemary rieb sich die Hände. Anschließend beugte sie sich vor, pickte Jason einen flüchtigen Kuss auf die Wange und rauschte ab.
»Verzeihen Sie mir meine Gereiztheit, Master Jason«, sagte Maxim und nahm ein perfekt gebügeltes blütenweißes Taschentuch aus seiner Tasche. Er wischte sich die Augen und schnäuzte sich lautstark die Nase – es erinnerte an Trompetenstöße aus einem Elefantenrüssel. »Es ist wegen Master Nick. Sein Tod.« Er putzte sich noch einmal die Nase. »Das hat mich ziemlich mitgenommen.«
Jason legte Maxim die Hand auf die Schulter.
»Ich weiß. Es hat uns alle ziemlich mitgenommen, Maxim.«
Der alte Butler zog ein abgegriffenes Foto aus einem schwarzen Lederportemonnaie. »Master Nicholas, als er vier war. Nachdem er das Vogelhaus in die Luft gejagt hat.«
Jason nahm das zerfledderte Foto mit einem ziemlich angesengten Nick aus Maxims zitternden Fingern.
»Dad war außer sich«, erinnerte sich Jason und lächelte leicht.
»Und das hier ist mein Lieblingsfoto von Master Nicholas«, sagte Maxim leise.
Jason starrte wie versteinert auf das Foto. Es zeigte ihn selbst, Adrian und Nick zusammen auf der Gangway im New Yorker Hafen.
»Ich erinnere mich gut an das Foto«, sagte Jason.
Maxim schenkte ihm ein wässriges Lächeln. »Es ist aus meinem Album.«
»Brüder«, flüsterte Jason.
Er hob den Blick. Von der Eingangshalle führte eine große Treppe zum ersten Stock hinauf. Die beiden großen Mahagonitüren am oberen Absatz waren geschlossen.
Maxims Blick folgte dem seinen.
»Madam Lilian hat ihre Zimmer nicht verlassen, seit sie die Nachricht von Master Nicholas’ Tod erhalten hat.«
Jason seufzte.
»Ich habe wie üblich die Räume im Südflügel des dritten Stocks für Sie herrichten lassen, Master Jason. Mein Zimmer ist immer noch im sechsten Stock rechts. Wenn Sie mich brauchen, läuten Sie bitte die Klingel in Ihrem Salon. Das Frühstück wird um Punkt 8 . 00 Uhr in Madam Lilians Esszimmer serviert.«
»Kein Frühstück, Maxim.«
Maxim bedachte ihn mit einem strengen Blick. »Ich werde ein separates Frühstück für Sie zubereiten, Master Jason. Genau um 7 . 00 Uhr. Drei Spiegeleier. Orangensaft. Den nährwertarmen weißen Toast, den Sie bevorzugen.« Sein Stirnrunzeln war nicht zu übersehen. »Und Porridge, mit Sahne und Whisky. Und wenn ich so kühn sein darf, Master Jason, nachdem ich mich um Sie gekümmert habe, seit Sie in der zweiten Klasse waren, möchte ich Ihnen nachdrücklich empfehlen, sich bis nach dem Begräbnis weiterer geistlicher Getränke zu enthalten.«
Jason sah Maxim an, von Gefühlen übermannt.
»Sie dürfen so kühn sein, Maxim, alter Freund«, sagte er leise.
Maxim tupfte sich wieder die Augen.
»Ich werde jetzt Madams Schlaftabletten holen«, erklärte er und zog sich mit einer steifen Verbeugung zurück.
Jason ging langsam die Treppe zum ersten Stock hinauf.
Er stieß die Mahagoni-Türflügel auf und blickte in das große Wohnzimmer, das mit erlesenen Antiquitäten, Wandbehängen und Teppichen ausgestattet war.
Lilian De Vere saß allein im Dunkeln und sah sich Videoaufnahmen an, wie sie es den ganzen Tag schon tat. Aufnahmen von Nick in der Schulzeit, Nick in Cape Cod mit Adrian und Jason, Nick bei der letzten De-Vere-Familienparty, als James De Vere noch am Leben gewesen war.
Sehr behutsam beugte Jason sich über sie und nahm ihr die Fernbedienung aus der Hand.
»Mutter«, flüsterte er.
Lilian schreckte auf und wandte sich um. Ihre Augen wurden feucht, und sie ergriff seine Hände. »Jason, mein Liebling.« Ihre dünnen Hände
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