Sohn der Verdammnis: Die Chronik der Erzengel. Roman (German Edition)
zitterten, als sie eine Beistelllampe einschaltete.
Jason sah liebevoll auf sie herunter und holte tief Luft. Sie war über Nacht gealtert. Immer sehr schmal, auf eine elegante Art, wirkte sie jetzt regelrecht hager. Ihr silbernes Haar war fein geflochten und zu einem Knoten aufgesteckt, und sie trug ein eng anliegendes schwarzes Kleid mit einer Diamantbrosche am Revers. Aber heute Abend sah sie so verletzlich aus. So gebrechlich.
Lilian nahm ihn in die Arme, und einen flüchtigen Augenblick lang musste Jason darum kämpfen, Haltung zu bewahren. Sie ließ ihn los.
»Du warst immer wie dein Vater – so stark … so hartnäckig und zielstrebig …« Ihre Stimme versiegte. »Aber Nicholas …« Sie nahm ein Foto von Jason, Adrian und Nick, das auf dem antiken Tischchen neben ihr stand. Ihre Augen blickten in die Ferne.
»Nicholas … war ein freier Geist …« Sie nahm Jasons Hand und klammerte sich daran. Ihre Hand zitterte. »Erst dein Vater …« Sie zog Jason neben sich auf das Sofa. »Und jetzt Nick …«
Ein leises Klopfen an der Tür. Maxim trat ein, deutete eine Verbeugung an und rollte ein silbernes Tablett mit Kanapees herein.
»Ein kleiner Imbiss, Madam Lilian.« Er warf einen Blick zu Jason. »Und Ihre Tabletten.« Er runzelte die Stirn, dann sah er hilfesuchend zu Jason. »Sie weigert sich, sie zu nehmen, Master Jason.«
Jason streckte die Hand aus. »Geben Sie sie her, Maxim.«
Nachdem Jason die beiden Tabletten genommen hatte, legte er sie sanft in Lilians Hand und reichte ihr ein Glas Wasser.
»Trink das, Mutter«, sagte er. »Du hast ein paar anstrengende Tage vor dir, mit dem Begräbnis und allem.«
Lilian lächelte leicht. »Lily kommt Weihnachten zum Lunch.«
»Ich weiß. Jetzt nimm deine Tabletten.« Er lächelte ebenfalls.
Lilian schluckte die Tabletten und trank.
»So ist es richtig.«
»Madam Lilian, wenn Sie noch irgendwas benötigen, so brauchen Sie nur zu läuten; ich komme sofort«, erklärte Maxim und verschwand mit einer Verbeugung durch die Wohnzimmertür.
Jason stand auf. »Es ist spät, Mutter. Der Tag morgen ist lang. Du brauchst deinen Schlaf.«
Er half Lilian hoch. Einen langen Augenblick standen sie schweigend zusammen in der Dunkelheit.
Schließlich sprach Jason. »Ich vermisse Nick«, flüsterte er.
Lilian nahm sein Gesicht in ihre Hände und sah ihm tief in die Augen.
»Als er sehr jung war, Jason …«, ihre Stimme war sehr leise, »… da warst du sein Held. Sein ganzes Leben lang, bis zu dem Unfall, hat er sich immer auf deine Stärke verlassen – eine Stärke, die er niemals hatte, wie er sehr wohl gewusst hat …«
Sie zog Jason an sich.
»Er hat dich geliebt, Jason.« Sie küsste ihn zärtlich auf die Stirn, wie sie es getan hatte, als er noch ein kleiner Junge war.
»Er war zu weich«, murmelte Jason. »Er war ein Narr …«
Tränen liefen ihm über die Wangen.
»… ein Narr, aber ich habe ihn geliebt, Mutter …«
Er machte sich los, wandte sich um und verließ den Raum. Lilian blieb allein in der Dunkelheit zurück.
XXVII
DAS BEGRÄBNIS
28 . Dezember 2021 All Souls Church –
Langham Place, London
J ason stand im Foyer der Kirche, außer Blickweite der zahlreichen Reporter. Vor der berühmten Rotunda am Eingangsportal der All Souls Church fuhr eine Kavalkade von schwarzen Limousinen vor. Jason kniff die Augen zusammen, als das Lichtgewitter der allgegenwärtigen Fotoapparate der Paparazzi aufblitzte und die bleigraue Dämmerung des Londoner Tages zerriss.
Adrian De Vere war angekommen.
Jason drehte sich um und ging das Langschiff entlang zu den vorderen Sitzreihen. Die Kirche war bis zum Bersten voll mit dem Who’s Who der britischen und amerikanischen Prominenz aus Wirtschaft und Politik. Ein Resultat des gewaltigen Einflusses, den das De-Vere’sche Bankenimperium in beiden Bereichen ausübte, und der Tatsache, dass Adrian auf dem besten Weg war, die mächtigste politische Figur der ganzen westlichen Welt zu werden.
Jason machte sich im Geiste Notizen, während er die Stuhlreihen abschritt. Auf der rechten Seite erkannte er vier britische Unterhausabgeordnete, den Schatzkanzler, den neu gewählten konservativen britischen Premierminister, den französischen Präsidenten, den niederländischen König und vier weniger bekannte Mitglieder der britischen Königsfamilie. Auf der linken Seite saßen die Vorstandsvorsitzenden der Bank of England und von North Sea Oil sowie vier US -Kongressabgeordnete und drei Senatoren,
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