Sokops Rache
sich so weit beruhigt, dass sie an ihren leeren Kühlschrank denkt und den Polo auf den Parkplatz des Einkaufszentrums am Friedenshof lenkt. Sie steuert den Einkaufswagen durch die Gänge des Discounters, lädt ohne nachzudenken Packungen und Flaschen hinein, ist mit ihren Gedanken ganz bei Henry. Bei ihrem letzten Interview vor vier Wochen war er ihr noch ruhiger und stiller erschienen als in den Monaten zuvor. Zwar hat er auf ihre Fragen geantwortet – höflich, mit Bedacht, in wohlgesetzten Worten – aber von sich aus hat er nichts mehr eingebracht, keine eigene Überlegungen, Deutungen oder Meinungen. Sie hat ihn gefragt, ob er jetzt, so kurz vor seiner Entlassung nach dem fünfzehnjährigen Aufenthalt, für das Gefängnis, für die Zeit hier drinnen, so etwas wie ein Schlusswort habe. Er hat den Kopf mit dem silbergrauen Bürstenschnitt in die Hände gestützt, die Brille mit dem breiten schwarzen Rand, die ihm das intellektuelle Flair gibt, das sie so liebt, abgenommen und sich die Schläfen gerieben. Dann hat er die Brille wieder aufgesetzt, durch das vergitterte Fenster des Besucherraums in die Ferne geblickt und Sonja hätte ihn am liebsten in die Arme genommen, so verloren und einsam wirkte er plötzlich.
»Wer warten kann, ist stark«, hat seine Antwort gelautet. Nur dieser eine Satz, der – wie es ihr vorkam – minutenlang zwischen ihnen in der Luft schwang, sie völlig umgeworfen hat in seiner nüchternen, universellen Wahrheit. Beim Abschied hat sie ihm ihre Visitenkarte gegeben und versprochen, ihn am Entlassungstag abzuholen. Dann haben sie sich mehrere Atemzüge lang die Hände geschüttelt. Noch als sie vom Wachbeamten hinausgeschlossen wurde, hat sie den rauchgrauen Blick Henrys gespürt. Ganz so, als läge seine warme Hand auf ihrem Rücken.
Wer warten kann, ist stark – das kann genauso gut auf sie zutreffen. Seit einem knappen Jahr wartet sie auf den freien Henry, will ihn und ihre eigenen Gefühle auf den Prüfstand des Alltags außerhalb der Gefängnismauern stellen – bevor sie ihm ihre Liebe gesteht. Einen Moment lang blitzt die Frage auf, wie er vorhin so schnell vom Anstaltsvorplatz weggekommen ist, liegt die JVA doch mitten in der Pampa, egal, er wird sich bestimmt melden, wird weiter mitarbeiten an ihrer Reportage. Immerhin ist sie außer seinem Bewährungshelfer die einzige Kontaktperson, die er hat – in Wismar und, soweit sie weiß, auch überhaupt.
Mit einem Mal ist ihr klar, was zu tun ist. Sie stoppt ihren Einkaufswagen mitten im Gang. Sie wird über die Bewährungshilfe versuchen, Kontakt zu Henry zu bekommen! Voller Zuversicht türmt sie ihre Einkäufe auf das Kassenband. Außerdem ist die Stadt nicht so groß, dass man sich nicht irgendwann über den Weg laufen würde. Das wird schon!
In ihrer Wohnung trägt sie die Tüten in die winzige Küche, ignoriert den Berg schmutzigen Geschirrs in der Spüle und sieht den kleinen Stapel Post durch, der sich seit Tagen in ihrem Briefkasten angesammelt hat. Werbung, Werbung, eine Einladungskarte zu einer Vernissage, Werbung, eine Karte mit einem dicken rosafarbenen Glücksschwein auf der Vorderseite. Sie dreht sie um und liest: Heute ist dein Glückstag! Dies ist ein Gutschein für ein Wunschmenü in deinem Lieblingsrestaurant mit deinem Lieblingskollegen. Ruf mich an. Volker
Die Karte landet zusammen mit den Werbesendungen im Altpapierkarton. Wann gibt dieser Langweiler endlich auf? Auf den trifft Wer warten kann, ist stark nun wirklich nicht zu. Seitdem sie für die Zeitung schreibt, bombardiert er, einer der beiden fest angestellten Redakteure, sie mit Einladungen, launigen Nachrichten per SMS, kleinen Geschenken zu Weihnachten und Ostern. Sie will nichts von ihm und hat ihm das auch zu verstehen gegeben, so deutlich sie es sich traut – immerhin ist sie nur eine »Freie« und Volkers Wort zählt beim Chefredakteur. Aber er lässt nicht locker. Das ist nicht stark, das ist blöd, findet Sonja. Sie angelt sich ein Bier aus einer Einkaufstüte. Als sie es an die Lippen setzt, fällt ihr das ausgefallene Frühstück ein. Hunger hat sie nicht, doch als geübte Trinkerin weiß sie, dass sie eine Grundlage braucht, sonst ist sie sofort betrunken. Sie nimmt zwei, drei Schlucke, reißt dann die Packung mit den Fertigbuletten auf. Kauend wandert sie ins Wohnzimmer hinüber, ignoriert das Chaos von gestern Abend, setzt sich auf die Fensterbank und schaut zur fiesen Seite hinüber. Ihre Nachbarin aus der ersten Etage
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