Sokops Rache
Wohnungsinhaberin auf seinen Schoß, gestikuliert dabei mit einer Zigarette durch die verqualmte Luft. Die Flaschenarmee auf dem niedrigen Couchtisch gerät ins Schwanken, was niemanden kümmert. Im Hintergrund kämpft ein weiterer Mann an einem überdimensionierten, rot und blau blinkenden HiFi-Rack schlingernd um sein Gleichgewicht, ganz so als stehe er an Bord eines Schiffes. Ob es der Wirrhaarigen einen Lustgewinn verschafft, sich mit solchen Typen abzugeben? Vermutlich geht es eher um Geld oder um Alkohol.
Sonja kehrt dem Fenster den Rücken, leert ihr Glas und schenkt sich nach. Schaudernd denkt sie an Redaktionsleiter Schubert zurück, der ihr vorhin in seinem Schweriner Büro kalt lächelnd die Pistole auf die Brust gesetzt hat. Kurz war die Möglichkeit in ihr aufgeblitzt, einfach hinzuschmeißen, ihm ein Man sieht sich auf dem Arbeitsamt! entgegenzuschmettern. Doch sie braucht jeden Euro, den ihr diese läppischen Artikel über städtische Bauvorhaben, Kunsthandwerkermärkte oder zankende Lokalpolitiker einbringen. Um die Aufträge der ohnehin vor der Pleite stehenden Lokalzeitung nicht schon jetzt zu verlieren, hat sie sich mit dem erneut gesenkten Zeilen- und Fotohonorar einverstanden erklärt.
Sie schaltet den Fernseher ein – ohne Ton –, nur als Verbindung zur Welt da draußen, außerhalb ihres mickrigen kleinen Lebens in der Mecklenburger Provinz. Dabei hatte alles so gut angefangen. Onkel Klaus hatte ihr das Volontariat bei dem renommierten Hamburger JOURNAL verschafft. Dort hat sie alles gelernt, was eine gute Journalistin ausmacht, und nebenher Seminare im Journalistikstudiengang der Universität besucht. Doch dann ging es einfach nicht weiter. Eine Stelle gab es nach dem Ende des Volontariats nicht und auch kein anderes Blatt wollte sie haben. Also ist sie zurück nach Mecklenburg, in ihre Heimatstadt Wismar gekommen, lebt als sogenannte Freie vom Lokaljournalismus und verkauft ab und zu einen Artikel oder eine Reportage an überregionale Blätter. In manchen Monaten weiß sie nicht, ob sie die Miete für ihre kleine Wohnung hier im Wismarer Wohnviertel Friedenshof zusammenbekommen wird.
Mit einem Mal merkt sie den Wein, erinnert sich, außer einer während der Autofahrt nach Schwerin verzehrten Banane heute nichts gegessen zu haben. In der Küchennische belegt sie ein Brötchen vom Vortag mit Salami und trägt es zum Schreibtisch. Kauend startet sie den Rechner, wählt den Ordner Lebenslang und überfliegt die Unterordner: StVollG, Waldeck, Santa Fu, Knastalltag, Bewährungshilfe, Biografien, Interviews, Schriftverkehr. Ein doppelter Mausklick auf Interviews öffnet das Verzeichnis der Tondokumente Eugen, Henry, Mario und Sven – Ihre Männer. Sie schiebt den letzten Bissen in den Mund, setzt Kopfhörer auf. Dann öffnet sie Henry_24.07.08 und hört ihre eigene Stimme.
»Erzählen Sie einfach drauflos. Wie ist Ihr Leben bis zu Ihrer Verhaftung verlaufen? Was war Ihnen wichtig?« Stille, dann ein Knistern. Das Rad eines Feuerzeugs wird angerissen.
»Ich heiße Henry Sokop, bin vierzig Jahre alt und seit vierzehn Jahren inhaftiert.«
Sonja gleitet tief in ihren kunstledernen Chefsessel, genießt den sonoren, honigweichen Klang. Sie erinnert sich, dass ihr an ihm als Allererstes diese leise, verhaltene Stimme, ja überhaupt die verhaltene Stille aufgefallen ist, die von ihm ausging – obwohl ihn zugleich etwas Abenteuerliches zu umwehen schien, das nicht zu diesem Sanften, Leisen passen wollte. Sein Tonfall war vorsichtig, abwartend, abwägend. Ob er jemals laut werden kann? Kaum vorstellbar. Vielleicht, hat sie damals überlegt, ist er trotzdem brutal, so ein leiser, perfider Quäler, der sich lautlos an den Qualen ergötzt, die er anderen zufügt. Jedenfalls ging von ihm nicht diese fade Langweiligkeit aus, die sie von sanften Männern kannte. E r ist die leise, drängende Stimme, die im Hintergrund Mordaufträge gibt, hat sie damals gedacht – unbeteiligt, ohne Skrupel, eiskalt. Da kannte sie ihn noch nicht.
»Ich will versuchen, mich auf die wichtigsten Daten zu beschränken. Ich bin Einzelkind, wuchs bei meiner Großmutter in Hamburg auf. Mein Vater war deutlich älter als meine Mutter. Sie hat uns verlassen, als ich fünf Jahre alt war. Mein Vater war Gebrauchtwagenhändler in Berlin. In den Schulferien habe ich ihn manchmal besucht, Autos gewaschen, in der Werkstatt geholfen. Er ließ niemanden an sich heran, war durch seine
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