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Sokops Rache

Sokops Rache

Titel: Sokops Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Lohmeyer
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Erfahrungen in der NS-Zeit – er war Halbjude, hatte vier Jahre KZ überlebt – wie versteinert. Vielleicht hat sich Diane, meine Mutter, deshalb von ihm getrennt. Sie brachte mich bei ihren Eltern in Rahlstedt unter, während sie als Dolmetscherin durch die Welt reiste. Rahlstedt, das ist so ein Spießbürgereldorado am Ostrand von Hamburg. Betuliche alte Villen, billige Neubauten, pseudodörfliches Ambiente. So als würde man in Wismar das Dahlbergviertel mit dem Friedenshof kreuzen.«
    Sonja erinnert sich, wie sie bei diesem Vergleich zusammengezuckt ist, aus Furcht, dass er wissen könnte, wo sie wohnt. Zum Zeitpunkt der Aufnahme war sie ihm gegenüber noch auf der Hut gewesen, ängstlich bemüht, diesen kurz vor der Freilassung stehenden Mörder nicht allzu viel von sich wissen zu lassen.
    »Diane bekam ich fortan kaum noch zu Gesicht. Ich erinnere auch kaum, wie mein Großvater aussah. Irgendwie dunkel, mit dichten, borstigen Brauen und einem kalten Zigarrenstummel im Mundwinkel. Er war Schuster, aber ich habe kein Bild von seinem Laden oder der Werkstatt im Kopf. Er ist früh an Lungenkrebs gestorben. Im Krankenhaus habe ich ihn ein, zwei Mal besucht. Dann durfte ich nicht mehr mitkommen. Und nach ein paar Wochen stand Oma laut weinend mit dem Telefonhörer in der Hand in unserem Flur. Ich wusste sofort, was das bedeutete.«
    »Noch Kaffee?«, hört Sonja sich fragen. Das Geräusch des Einschenkens, das Zuschrauben einer Thermoskanne, Schlürfen, das Klacken von Bechern, die auf einer Tischplatte abgestellt werden.
    Die Rostocker Anstaltsleitung hat ihr Interviewprojekt sehr unterstützt. Sonja bekam, so häufig sie es wollte, Besuchstermine, durfte ihrem Interviewpartner Zigaretten mitbringen – nur unangebrochene Packungen – und im Besuchsraum, den sie für sich allein hatten, wartete stets eine Kanne Kaffee. Resozialisierungsunterstützend, hatte der Abteilungschef in der JVA Waldeck ihre Besuche genannt. »Er hat ja sonst niemanden draußen.«
    »Sie haben gar keinen Kontakt mehr zu ihrer Mutter?«
    »Als ich aufs Gymnasium kam, ist sie zu ihrem neuen Mann in die USA gezogen. Den letzten Brief, der mir erklären sollte, weshalb sie mich nicht in ihr neues Leben mitnahm, habe ich aufbewahrt. Ich zeige ihn Ihnen, wenn Sie das nächste Mal kommen.« Seine Stimme, sonst ruhig, fest und ohne große Schwankungen, scheint einen Moment lang zu brechen. Erst nach einer längeren Pause nimmt er den Faden wieder auf.
    »Inzwischen hege ich keinen Groll mehr gegen sie. Sie kommt mir nur noch bemitleidenswert vor, eine Getriebene, auf der hektischen Suche nach Glück, mit tickender Lebensuhr im Nacken. Sie muss jetzt Anfang sechzig sein – falls sie noch lebt.«
    Es knistert, das Feuerzeug ratscht, hörbares Einatmen und dann Ausstoßen des Rauchs. Aus der Ferne gedämpftes Männergeschrei, metallisch hallende Schläge.
    »Das letzte Mal sah ich sie 1985, als meine Oma starb. Ich war gerade achtzehn. Wir trafen uns auf der Beerdigung wie zwei Fremde – die wir ja auch irgendwie waren. Beim Leichenschmaus hat sie mir ihre Visitenkarte zugesteckt. Die habe ich gleich dort, auf der Restauranttoilette, zerrissen, die Schnipsel weggespült. Ich weiß nicht einmal, wie ich diese Frau nennen soll. Das Wort Mutter kommt mir schwer über die Lippen. Wenn ich an sie denke, nenne ich sie beim Vornamen. Doch das kommt nicht oft vor.«
    Sonja, in ihren Schreibtischsessel gekuschelt, hüllt sich ein in den Melodiekokon dieser Stimme, die sie an geschmolzene Butter denken lässt. Henry, ihr Lieblingsgefangener. Sie blickt auf die Datumsanzeige in der Bildschirmecke. Morgen wird ihre Welt im Sonnenschein liegen.
    Die Idee zu dieser Langzeitreportage war wie ein Schicksalswink gewesen. Verzweifelt hatte sie nach etwas gesucht, das ein überregionales Magazin interessieren würde, Stoff, der vielleicht sogar für ein Buch, mindestens aber für ein Hörfunkfeature taugte. Über die Erinnerung an Brieffreundschaften, die sie früher mit jugendlichen Inhaftierten geführt hatte, fand sie dann das Thema Lebenslänglich: Lebensgeschichten, Knastalltag, Resozialisierung oder Rückfall, Lebensbewältigung in Freiheit. Themen, mit denen sie vielleicht endlich ein wenig journalistischen Ruhm erlangen wird. Schnell hatte sie die Leitfragen zusammen: Wie fühlt es sich an, nach so langer Haftzeit die Gefängnismauern hinter sich zu lassen? Ist das Vollzugsziel Resozialisierung überhaupt realistisch? Ist die Freiheit nicht eine neue Strafe

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