Solange am Himmel Sterne stehen
aufwachen will. Ich frage mich, ob er an meine Großmutter denkt.
»Jacob?«, sage ich noch einmal. Ich berühre ihn leicht am Arm, und in dem Augenblick weiß ich es. »Jacob«, murmele ich leise, während mir die ersten Tränen übers Gesicht rinnen. Sein Arm ist kalt und seine Wange ebenfalls, als ich eine Hand hebe, um sie sanft zu berühren. Er ist von uns gegangen. Und irgendwie wundert mich das gar nicht. Er hat sein Leben lang versucht, Mamie zu finden. Und jetzt hat er die Ewigkeit, um all die verlorenen Jahre nachzuholen.
Ich störe ihn nicht. Ich wecke Annie oder Alain nicht auf. Ich fahre nicht zur Bäckerei. Ich bleibe einfach neben ihm sitzen, neben diesem Mann, dessen Mut mir vor so vielen Jahren das Leben geschenkt hat, lange bevor ich überhaupt geboren wurde, und ich weine. Ich weine um all das, was verloren, und all das, was gefunden wurde. Ich weine um meine Großmutter, und ich weine um meine Mutter, die die Geschichte ihrer Geburt nie erfahren hat. Ich weine um Annie, da sie bereits weitaus mehr Verlust zu ertragen hatte, als sie in solch jungen Jahren sollte. Und ich weine um mich selbst, da ich nicht mehr weiterweiß. Ich weiß nicht, wie ich die Antworten finden soll, von denen Jacob offenbar glaubte, dass ich sie in meinem Herzen trage.
Nach reiflicher Überlegung beschließen Alain und ich, Jacob neben meiner Großmutter beizusetzen. Schließlich hat er nirgends mehr irgendwelche Verwandten, und wir können uns keinen Ort vorstellen, an dem er lieber begraben sein würde als neben seiner großen Liebe. Ich habe sie gefunden , hat er mir an seinem letzten Abend gesagt. Ich habe meinen Frieden gefunden .
Elida White und ihre Großmutter kommen zur Beisetzung aus Pembroke, und wir stehen alle zusammen da – Muslime, Christen und Juden – und lauschen den Worten des Rabbis an seinem Grab. Ich blicke nach Osten, in die Richtung, in die Jacobs Grabstein zeigen wird, wenn er geliefert wird. Mamies Stein wird in dieselbe Richtung zeigen. In ein paar Stunden werden die ersten Sterne des Abends am Himmel aufgehen, wie sie es immer getan haben, wie sie es immer tun werden. Denn solange am Himmel Sterne stehen, begreife ich jetzt, wird Jacobs Versprechen, Mamie zu lieben, fortleben. Die Sterne, nach denen sie einst Ausschau hielt, werden still über sie und ihre große Liebe wachen, die endlich an ihre Seite zurückgekehrt ist.
31
Der Winter am Cape Cod ist lang und einsam, und dieses Jahr kommt es mir vor, als stehe die Zeit still, während ich darauf warte, die Bäckerei zu verlieren. Es gibt keine potenziellen Käufer, denn wer würde einen solchen Laden mitten im Winter schon wollen? Aber die Bank beabsichtigt dennoch, sie mir wegzunehmen. Matt unternimmt nichts, um es zu verhindern, und ich bitte ihn auch nicht darum. Jeden Morgen, wenn mein Atem vor mir in der Luft schwebt wie gefrorene Rauchwolken, frage ich mich, ob heute der Tag ist, an dem der letzte Rest von Mamies Vermächtnis verschwinden wird. Bis dahin werde ich die Bäckerei weiterführen, denn das ist das Einzige, wovon ich etwas verstehe.
Man könnte glauben, diese Jahreszeit wäre mir wegen der zunehmenden Trostlosigkeit und des schleppenden Geschäfts die unliebsamste. Aber ich habe in den Wintermonaten immer Frieden gefunden. Die Abende sind so still, kurz bevor die Sonne untergeht, dass ich innerhalb der Wände meines Cottages das Kreischen einer einzelnen Möwe über dem Meer hören kann. Wenn ich über den Strand spaziere, knirscht bisweilen Eis unter meinen abgelaufenen Stiefeln. Und die Main Street kommt mir vor den Feiertagen wie eine Geisterstadt vor; wenn ich morgens in die Bäckerei komme, könnte ich manchmal glauben, der einzige Mensch in dieser winterlichen Märchenlandschaft zu sein, und ich stelle mir vor, was ich tun würde, wenn niemand mich sehen könnte.
In der dritten Novemberwoche schlägt Gavin vor, zusammen essen und ins Kino zu gehen, und obwohl ich ablehne, kommt er ein paar Tage später vorbei und lädt Annie, Alain und mich zu Thanksgiving in das Haus seiner Familie in der Nähe von Boston ein. Ich vermisse Mamie mehr als sonst an diesem Tag, und ich bin nervös wegen der Bäckerei, daher fahre ich ihn an, ohne es so zu meinen.
»Hör zu, ich bin dir sehr dankbar für alles, was du für mich und meine Familie getan hast«, blaffe ich ihn an, und mein Magen verkrampft sich bei meinen Worten. »Aber ich kann das Annie nicht antun.«
Er blickt verblüfft und verletzt. »Was nicht antun?«
»Ein
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