Solange am Himmel Sterne stehen
der Stelle mein Leben für sie geben würde, dass ich alles in meinem eigenen Leben aufgeben würde, um ihr ein besseres Leben zu bieten, aber ist das Liebe? Ich kann es unmöglich wissen. Und wenn ich mir meiner Fähigkeit, meine Tochter richtig zu lieben, nicht sicher bin, wie kann ich dann glauben, imstande zu sein, jemand anderen zu lieben?
Außerdem scheint mir, dass Mamie sich an ihre Liebe zu Jacob geklammert hat wie an ein Tau, das sie vor dem Ertrinken retten sollte. Doch im Laufe der Jahre wurde dieses Tau, das sie rettete, zu einer Schlinge, die sich von Jahr zu Jahr fester um ihren Hals legte. Ich befürchte, auch das kann aus Liebe werden, wenn man es zulässt.
Gavin hatte recht; unzählige Schutzwälle umschließen mein Herz, und ich weiß nicht, wie irgendjemand sie überwinden könnte. Ich glaube nicht mehr, dass es dort draußen irgendjemanden gibt, der gewillt ist, es zu versuchen. Ein einziges Gespräch mit Gavin hat genügt, um ihn zu vertreiben, und er ist ganz aus meinem Leben verschwunden, was mir bewiesen hat, dass ich ihm von Anfang an ohnehin nicht besonders wichtig war. Wie töricht war es doch von mir, etwas anderes zu glauben. Wie töricht, dass mir davon das Herz bricht.
Am 30. Dezember, einen Tag nachdem Alain zurück nach Paris geflogen ist, taucht Annie um zwei Uhr nachmittags in der Tür der Bäckerei auf. Eigentlich sollte sie um diese Zeit mit ihrer Freundin Donna bei uns zu Hause herumhängen. Donnas Mutter ist genau wie ich der Ansicht, die beiden Mädchen seien alt genug, um für ein paar Stunden bei mir zu Hause allein gelassen zu werden.
»Alles okay?«, frage ich prompt. »Wo ist Donna?«
»Sie ist nach Hause gefahren.« Annie lächelt. »Du hast einen Anruf bekommen.«
»Von wem denn?«
»Von Mr Evans«, nennt sie den Namen des einzigen Fachanwalts für Erbrecht in der Stadt. »Mamie hat ein Testament hinterlassen.«
Ich schüttele den Kopf. »Das kann nicht sein. Davon hätten wir längst erfahren. Mamie ist vor über einem Monat gestorben.«
Annie legt den Kopf schief. »Soll das heißen, ich lüge jetzt oder was?« Ich mache den Mund auf, um etwas zu erwidern, aber sie fährt fort: »Er hat gesagt, na ja, Mamie wollte nicht, dass er dich vor dem 30. Dezember anruft, weil es da irgendeinen Brief gibt, den du erst an Silvester bekommen solltest.«
Ich starre meine Tochter an. »Du machst Witze.«
Annie schüttelt den Kopf. »Das hat Mr Evans gesagt. Ruf ihn an, wenn du mir nicht glaubst.«
Und so rufe ich Thom Evans an, einen der vielen Männer in der Stadt, der hin und wieder mit meiner Mutter ausgegangen ist, als ich ein Kind war, und er erklärt mir in seinem steifen, bedächtigen Ton, ja, es gebe ein Testament, und ja, es gebe einen Brief, und ich könne morgen jederzeit gern vorbeikommen, um beides abzuholen, auch wenn es ein Samstag und noch dazu ein Feiertag sei. »Das Gesetz schläft nie«, erklärt er mir, und dabei muss ich mir das Lachen verkneifen, denn die ganze Stadt weiß, dass man Thom Evans, wenn man in seiner Kanzlei vorbeischaut, vermutlich eher mit einer Flasche Scotch in der Hand an seinem Schreibtisch eingenickt antrifft als tatsächlich bei der Arbeit.
Am nächsten Nachmittag schließe ich die Bäckerei etwas früher und mache mich auf den Weg zu Thoms Kanzlei, die nur ein paar Blocks weiter in der Main Street liegt. Die Sonne scheint hell, auch wenn ich weiß, dass sie in nur wenigen Stunden zum letzten Mal in diesem Jahr im Meer versinken wird. Annie übernachtet heute bei ihrem Vater, der sich bereit erklärt hat, mit ihr, Donna und zwei anderen Freundinnen zu der großen Silvesterfeier nach Chatham zu fahren, und ich habe vor, den Abend allein am Strand zu verbringen, auch wenn ich mehrere dicke Wollschichten benötigen werde, um mich gegen den kalten Wind zu wappnen, der von der Bucht hereinweht. In letzter Zeit habe ich oft an all die Abende denken müssen, an denen Mamie den Himmel abgesucht hat, und es erscheint mir richtig, das Jahr ausklingen zu lassen, indem ich dasselbe tue, und zwar von dort, wo die Sicht am klarsten ist.
Ich lege Mütze und Mantel ab und stecke den Kopf durch die Tür zu Thoms Büro. Er scheint an seinem Schreibtisch eingenickt zu sein, auch wenn weit und breit keine Schnapsflasche zu sehen ist. Ich halte kurz inne, bevor ich klopfe. Er muss jetzt fast siebzig sein; ich weiß, dass er die Highschool im selben Jahr abgeschlossen hat wie meine Mutter, und ihn zu sehen weckt bei mir für einen Moment
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