Solange die Nachtigall singt
einschließen?«
Sie stützte sich auf einen Ellenbogen, als wäre der Schnee unter ihr ein Federkissen.
»Ja, mein Jäger. Es ist besser für ihn. Der Schlüssel liegt in der Kommode, aber das weißt du ja. Vielleicht kannst du ihn später mit hinausnehmen, in den Wald. Einen Spaziergang mit ihm machen, ein paar Worte unter Männern reden, um seinen kranken Geist zur Vernunft zu bringen.«
Sie schlang die Arme um die bloßen Knie, drehte den Kopf mit dem leuchtenden Weißhaar und sah in den Wald. »Es kann natürlich sein, dass etwas passiert dort draußen. Falls er durchdreht. Es kann sein, dass es … einen Unfall gibt. Du musst vorsichtig sein mit dem Gewehr.«
Damit stand sie auf, sie war von oben bis unten voller Schnee, gekleidet in weiße Kristalle, die an ihrer Haut klebten. Jari sah ihr nach, wie sie ins Haus lief, das helle Haar hinter ihr in der blauen Luft wie eine eiskalte Flamme.
In seinem Zimmer, wo Jari sich wieder anzog, glänzte etwas Rotes unter dem Kopfkissen. Ein weiterer kleiner, rotwangiger Apfel. Meine Mutter, dachte er, würde diese Sorte Äpfel in die Fenster legen, zusammen mit Händen voll duftender Zimtstangen. Weihnachten war so nah. Er drehte den Apfel um. In seine rote Haut waren Worte geritzt wie Narben.
ICH HABE ANGST, JARI.
Er aß den Apfel, aß die Worte, aß Jaschas Angst. Dann setzte er sich auf den Stuhl am Schreibtisch, sah durchs Fenster in den perfekten, schwerelosen Papiermobile-Tag hinaus und stellte sich die Frage, die er sich die ganze Zeit über gestellt hatte. Diesmal stellte er sie laut.
»Kann ich gehen?«
Und er antwortete sich: »Nein.«
Selbst wenn er es schaffen würde, den Weg um die Klamm herum zu finden. Selbst wenn er dort draußen, außerhalb des Waldes, in der normalen Welt wieder Fuß fassen konnte. Wenn er vergessen konnte, dass er ein Mörder war – so konnte er doch nicht gehen. Er hatte es an diesem Morgen begriffen. Er konnte Jascha nicht hierlassen mit ihren Schwestern. Joana wurde zunehmend verrückt, verrückt und … böse. Und Jolanda tat nichts, um sie daran zu hindern. Sie war vielleicht die Schlimmere, in ihrer kühlen, zurückhaltenden Passivität. Die Jäger, die Joana und Jolanda geliebt hatten, vor Jahren, lagen am Grunde des dunklen Auges und rührten sich nicht mehr.
Jari schauderte.
»Du bist anders«, flüsterte er, obwohl Jascha ihn nicht hören konnte. »Du, die Jüngste, du bist ganz anders. Du fängst erst an, es zu wagen. Das Anderssein. Und sie werden dich dafür bestrafen. Ich bleibe, Jascha. Ich bleibe, bis zum Ende. Du wirst mich nicht zum Weg über der Klamm führen. Wenn du mitgehen könntest, wenn es möglich wäre … dann … Nein, ohne dich gehe ich nicht. Ich bleibe.«
Aber wie viel Zeit hatte er noch? Jahre, Monate, Tage? Wie lange würde er das kleine Mädchen schützen können, das Herzen in den Schnee malte? Und Branko mit den geronnenen Augen?
Ach was, sagte Jari sich, was gab es für einen Grund, Angst zu haben? Sie konnten ja nicht töten, die Mädchen. Er durfte nur nicht in ihre Fallen gehen.
Unten im Schnee sah er jetzt eine von ihnen stehen und ihre Hand in die Luft recken, dem Himmel entgegen. Sie trug den warmen kobaltblauen Wintermantel und dicke gefütterte Stiefel. Jari öffnete das Fenster einen Spaltbreit und hörte einen Vogel singen dort unten. Eine Nachtigall. Doch es war das Mädchen, das die Töne von sich gab. Sekunden später kam vom Waldrand her ein kleiner grauer Vogel angeflogen und ließ sich auf die ausgestreckte Hand nieder.
Die Mädchen beherrschten den Lockruf der Nachtigallen.
Er sah, wie sie ein weißes Tuch über den kleinen Vogel breitete, genauso wie damals, in jener Nacht. Sie hielt den Vogel lange so, und als sie das Tuch fortnahm, war er eingeschlafen. Mit einem einzigen Ruck riss sie eine seiner grauen Federn aus. Dann steckte sie die Nachtigall in die Tasche ihres Kobaltmantels. Und Jari verstand. Sie war tot.
Das weiße Tuch hatte etwas enthalten, um sie einzuschläfern. Er erinnerte sich daran, wie sie im Schulunterricht Insekten mit Äther betäubt hatten. Deshalb also waren damals auch dem Mädchen im Zimmer hinter dem Schlüsselloch die Augen zugefallen: Sie hatte in dem geschlossenen Raum selbst zu viel von dem Gas eingeatmet.
Sie töteten die Nachtigallen. Es war nicht der alte Herr gewesen, der die kleinen Vögel gefangen und ausgestopft hatte, sie waren es selbst.
»Ihr könnt nicht töten«, wisperte Jari und schloss das Fenster. »So, ihr
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