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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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könnt nicht töten. Aber ihr könnt es ganz gut, was? Es ist euch nur lieber, wenn jemand anders es für euch tut.«
    Als er die Treppe hinunterging, spürte er Jaschas Angst in seinen Adern pulsen, gemeinsam mit seiner eigenen. Sie hatten beide Grund, Angst zu haben. Grund genug.

Schneeblut
    Branko ließ sich führen wie ein Lamm. Und Jari führte das Lamm aus dem Efeuhaus, am Apfelgarten vorbei, in den Wald. Ein Opferlamm. Er spürte die Blicke der Mädchen, die ihnen folgten. Aber folgten die Mädchen ihm nur mit Blicken? Knackten da nicht Äste? Rieselte da nicht irgendwo Schnee von einem Zweig, den weder er noch Branko berührt hatten?
    Jari blieb erst stehen, als sie den Hang erreichten, der sein Ziel gewesen war. Dort ließ er Branko los. Branko stand starr wie ein Fels. Er starrte das Gewehr an.
    »Ja«, sagte Jari. »Sie wollen immer noch, dass ich dich erschieße. Warum bist du zurückgekommen?« Er hob die Arme, verzweifelt. »Wenn ich dir wieder sage, geh, wirst du wieder zurückkommen. Wenn ich nur begreifen könnte, was in deinem Kopf vorgeht!«
    Er sah sich um. Es war still am Hang, aber das hieß nichts.
    »Du hörst und siehst vielleicht mehr als ich«, sagte Jari und trat näher an Branko heran. Branko zuckte ein wenig zurück, wie ein Hund, gegen den sein Herrchen die Hand erhebt.
    »Sind sie hier?«, flüsterte Jari. »Die Schwestern? Beobachten sie uns?«
    Da reagierte Branko zum ersten Mal, seit Jari ihn aus dem verschlossenen Zimmer geholt hatte. Er schüttelte den Kopf. Jari atmete auf. Wenn Branko keines der Mädchen sah – Branko, der den Wald so viel besser kannte als er –, dann war keines da. Hoffentlich.
    »Ich kann dich nicht gehen lassen«, fuhr Jari fort. »Verstehst du das? Ich werde ihnen sagen, ich hätte dich getötet. Ich hätte eine Kugel in deinen Kopf gejagt, wie ich eine Kugel in den Kopf von Tronke gejagt habe und in die Köpfe der beiden Landvermesser. Renn jetzt nicht. Wenn du rennst, werde ich tatsächlich schießen.«
    Er holte tief Luft. Dann fasste er Branko am Arm und zog ihn mit sich den Hang hinunter.
    »Du wirst dich verstecken. So lange, bis sie sicher sind, dass du nicht mehr lebst. Dann hole ich dich, und Jascha kann dich fortbringen.«
    Sie waren vor der Höhle angekommen, und jetzt begann Branko, sich zu sträuben. Er wand sich mit einer verzweifelten Anstrengung, die es beinahe unmöglich machte, ihn festzuhalten. Jari spürte seine Angst, sein Entsetzen, aber seine Bewegungen waren zu unkoordiniert, und Jari war stark geworden während seiner Zeit im Wald. Branko öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, als wollte er schreien, doch es kam kein Ton heraus. Nur seine geronnenen Augen baten, riefen, flehten: Nicht in die Höhle!
    Jari entsicherte das Gewehr und schob ihn in die Dunkelheit.
    »Es tut mir leid«, wisperte er. »Es tut mir leid, dass es gerade die Höhle sein muss. Aber es ist das einzig sichere Versteck im Wald. Und ich muss absolut sichergehen, dass du hierbleibst.«
    Dort, wo sie standen, gab es gerade noch genug Licht, dass er sehen konnte, was seine Hände taten. Er hatte eine Rolle Draht bei sich, die er im Schuppen gefunden hatte, neben den ordentlich an der Wand aufgehängten Tierfallen. Er ließ das Gewehr befehlen, und es befahl Branko, die Hände auf den Rücken zu nehmen. Er hatte aufgehört, sich zu wehren, war schlaff und willenlos geworden, und beinahe war das schlimmer.
    Jari wickelte den Draht ein Dutzend Mal um Brankos Handgelenke und führte ihn tiefer in die Höhle. Dort schlang er die Drahtenden um die Kanten des größten Felsbrockens, den er fand – groß genug, dass Branko ihn nicht bewegen konnte –, und verknotete sie. Er holte ein halbes Brot aus der einen Tasche, eine Flasche Wasser aus der anderen und stellte beides so nahe neben Branko, dass Branko auch mit gefesselten Händen darankam.
    »Es tut mir leid«, wiederholte Jari. »Der Jäger ist ein herzloser Mensch. Er nimmt vieles in Kauf. Aber er rettet dein Leben.«
    Er brauchte Blut.
    Viel Blut.
    Ein Hase reichte nicht aus. Er dachte an die Wildschweine. An Tronkes Hochsitz.
    Es dauerte eine Weile, bis er ihn fand, doch schließlich kletterte er die Leiter hinauf, um auf die Dämmerung und ihre Gäste zu warten. In seinen Gedanken saß Jascha neben ihm auf den Holzbrettern und lehnte sich an ihn. Jari und Jascha, der Jäger und die Jungfrau. Sternbilder, dachte er. Vielleicht waren sie nichts als das.
    Er stellte sich vor, sie säßen zusammen an

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