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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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im Haar. Eines von dreien.
    Jari fand das angeschossene Reh tief in einem Brombeergebüsch. Seine Flanken hoben und senkten sich panisch, es lag auf der Seite und starrte ihn aus seinen dunklen Mädchenaugen an. Sie waren allein, er und das Reh. Die Schwestern waren nicht aufgetaucht. Aber er wagte nicht, noch einmal zu schießen, es erschien ihm zu laut. Er legte das Gewehr beiseite, zog sein Messer aus der Tasche und schnitt dem Reh die Kehle durch. Es schlief in seinen Armen ein. Wie die Nachtigallen, dachte er, in den Armen der Mädchen. Eines Tages würde dieser ganze Winterwald schlafen.
    Er schloss dem Reh mit einer Hand die Mädchenaugen. Dann badete er Hände und Arme in seinem Blut. Es war angenehm warm in der Kälte. Das feuchte Rot tränkte das Schaffell an den Ärmelaufschlägen der Jacke und lief auf Jaris Jeans. Er fuhr sich mit blutigen Fingern durchs Gesicht. Sollten sie denken, er wäre verrückt geworden. Wie sie.
    »Branko«, flüsterte er, »das ist dein Blut, hörst du? Dein Blut an meinen Händen. Du bist der Schönheit geopfert worden. Du wirst nie jemanden in den Wald führen und ihm die Gräber in der Schlucht zeigen. Du bist tot, zerflossen in rotes Blut, und ich werde dich begraben. Wenn nur der verdammte Boden nicht so hart wäre!«
    Er hatte aus dem Schuppen nicht nur den Draht mitgenommen, sondern auch eine Schaufel, eine lächerlich kleine Schaufel, vielleicht gedacht zum Pflanzen von Blumenzwiebeln. Aber immerhin hatte sie in seine Jackentasche gepasst. Er ging zurück auf die Lichtung und begann, den Schnee beiseitezuscharren, um ein Loch auszuheben, mühsam: Er musste die Spitze der Schaufel mit aller Kraft in die kalte Erde rammen. Die Erde war braun wie der Teig, aus dem seine Mutter in der Weihnachtszeit Herzen und Engel formte, und ihm war, als könnte er Zimt und Kardamom riechen. Er verscheuchte die Erinnerung, zog die Jacke aus, irgendwann auch den Pullover; er kniete auf dem Boden und attackierte die widerspenstige Erde mit zunehmender Wut.
    Und schließlich, unterhalb der gefrorenen Oberfläche, wurde die Erde weicher. Er roch das schlafende Leben in der Erde, die Blumen des kommenden Frühjahrs. Wenn er nicht vorher einen tödlichen Fehler machte, würde er sie sehen. Zusammen mit Jascha würde er hier entlanggehen, und das Frühjahr im Nebelwald, da war er sich sicher, wäre schöner als das Frühjahr irgendwo sonst.
    Er zerrte das Reh in die Grube und bedeckte es mit Erde, trat sie fest. Sein Grab war ein dunkler Fleck auf der weißen Lichtung, weithin sichtbar. Würden die Mädchen nachsehen, was dort lag? Würden sie die Erde mit ihren blassen Fingern aufscharren? Nichts war unvorstellbar.
    Jari schaufelte Schnee über die Erde, eine dünne weiße Schicht wie die Zuckerglasur auf den Lebkuchen, griff in seine anderen Jackentasche und legte ein Kreuz aus getrockneten Pilzen auf das Grab. So stand er mitten auf der Lichtung, noch immer blutverschmiert, voller Erde, als es im Wald hinter ihm raschelte.
    »Joana«, murmelte er. »Jolanda! Kommt nur. Ihr werdet sehen; der Jäger hat getan, was ihr wolltet. Branko schweigt für immer. Vielleicht bringt ihr Blumen an sein Grab. Vielleicht singt ihr für ihn das Nachtigallenlied, von Zeit zu Zeit.«
    Die Zweige am Rand der Lichtung teilten sich.
    Doch es war weder Jolanda noch Joana noch Jascha.
    Dort, zwischen den Bäumen, die Augen weit aufgerissen, stand Matti.
    »Jari«, sagte Matti. »Was …?«
    »Ich habe ein Reh geschossen«, antwortete Jari. Seine Stimme war flach und tonlos wie der Schnee auf dem Grab. Er wollte auf Matti zurennen. Ihn umarmen, spüren, dass er wirklich da war, obwohl sie sich nie umarmt hatten. Er wollte ihm alles erzählen. Er wollte, dass Matti fragte, dass er zuhörte … Nein. Matti durfte nicht fragen. Matti musste von hier verschwinden. Schnell. Er war Teil der Welt, die Jari verloren hatte.
    »Geh«, sagte er, laut und deutlich, ohne Erklärungen.
    »Nein«, sagte Matti.
    »Bitte, Matti, ich … ich bin nicht mehr der, den du kennst. Ich bin nicht mehr Cizek, der an der Werkbank neben dir steht. Ich habe von dir geträumt. Du saßt auf einem Ast über dem schwarzen See, und du hast gesagt, ich würde mich verwandeln. Du hattest recht. Ich habe mich verwandelt. Vergiss mich.«
    Matti schüttelte langsam den Kopf. Sein wirres Haar war jetzt kurz und weniger wirr, und Jari dachte für den Bruchteil einer Sekunde, dass er besser aussah so. Und dann, dass es völlig gleichgültig war, wie Matti

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