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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Farbtupfen an die Decke des Waldes, er hörte ihre Lieder und dachte an Cizek, den Zeisig. Einmal fand Matti einen Ring aus leuchtend roten Fliegenpilzen auf einer Lichtung. Er betrachtete sie lange. Er war so hungrig, dass er erwog, einen von ihnen zu essen, Gift hin oder her.
    Aber dann ließ er es.
    Alice war es auch nicht bekommen; er erinnerte sich an das zerfledderte Disney-Bilderbuch aus dem Kindergarten … Marianne dagegen hatte Fliegenpilze gemocht, als Muster auf Stoffborten, als Verzierung auf Taschen. Er hätte ihr eine ganze Rolle Fliegenpilzborte gekauft, wenn sie geblieben wäre. Er hätte sich einen verdammten Fliegenpilz auf den anderen Oberarm tätowieren lassen. Immer wieder erinnerte Matti sich an die Klamm und daran, was er dort gedacht hatte. Dass er, wenn er dies wagte, endlich die Liebe seines Lebens finden würde. Die Liebe, für die es sich lohnte, zu sterben. Aber er fand nicht mal den Weg.
    Und dann merkte er zu seinem Erstaunen, dass er in einer Loipe ging. In einer Langlaufloipe, die mitten durch den Wald führte. Er merkte, wie sein Puls rascher wurde, seine Hände waren jetzt feucht vor Aufregung. Am Ende dieser Loipe würde er Menschen finden, denn jemand hatte sie gemacht und jemand hatte sie benutzt … Er ging schneller. Die Loipe war lang und der Wald so einsam wie zuvor. Er fand niemanden. Ich darf nicht aufgeben, sagte er sich, auch lange Loipen führen irgendwohin.
    Auf einer Lichtung, über die die Skispuren ihn führten, fand er zwei kleine rote Äpfel, obwohl es dort keinen Apfelbaum gab. Er bückte sich danach, und als er sich wieder aufrichtete, hatte es begonnen zu schneien. Der Schnee fiel in dickeren und dickeren Flocken; Matti sah mit Verzweiflung, wie er anfing, die Loipe zuzudecken. Er rannte los, die Äpfel in der Hand. Er musste am Ende der Spur ankommen, ehe sie nicht mehr zu sehen war. Der Schnee war beinahe so schlimm wie der Nebel, eiskalt schlug der Wind ihm die Flocken ins Gesicht, und schließlich gab er auf, lehnte sich an einen Baum und fluchte.
    Er merkte, dass er nicht nur fluchte. Er heulte.
    Er konnte nicht mehr. Er war gekommen, um Jari zu retten, wovor auch immer, und nun wünschte er sich, jemand käme, um ihn zu retten. Aber natürlich kam niemand.
    Er stand lange so an den Baum gelehnt, bis der Wind und der Schnee sich legten und nur noch vereinzelte Flocken sachte um ihn zur Erde sanken. Die Loipe war verschwunden. Aber dafür hörte er jetzt etwas. Er hörte jemanden singen. Es war ein Singen ohne Worte, manchmal seltsam schräg, manchmal melodisch. Irgendwo hatte er diesen Gesang schon gehört.
    Matti ging durch die Bäume auf die Töne zu, sie kamen aus der Höhe. Sie kamen, erstaunlicherweise, von einem riesigen, flach ansteigenden Felsen.
    Hörst du das?, hatte Jari gefragt. Der Felsen. Der Felsen, auf dem ich sitze, singt .
    Wie viele singende Felsen gab es in diesem Wald?
    Einen, dachte Matti, ganz sicher nur einen.
    Er legte beide Hände an den Felsen und atmete tief durch.
    »Ich habe dich gefunden, Cizek«, sagte er laut. »Oder beinahe. Du hast vielleicht gedacht, ich schaffe es nicht, und wenn ich ehrlich bin, das habe ich auch gedacht. Aber hier bin ich. Ganz nah. Du warst hier, was? Hier bei diesem Felsen.«
    Auf der anderen Seite des Felsens fand Matti eine Stelle, an der man hinaufsteigen konnte, eine Art Pfad im Gestein, glitschig und steil, aber schließlich kam er oben an. Unter ihm erstreckte sich unendlich und weiß beschneit der Wald. Der Abend kroch bereits langsam näher und griff mit violetten Fingern nach dem Land. Matti wollte in einer gewohnten Geste sein wirres Haar zurückstreichen, erinnerte sich, dass es jetzt kurz war, schüttelte den Kopf und legte beide Hände an den Mund.
    »Jari!«, rief er. »Jariiiii! Ich bin hiiiier!« Sein Ruf vereinigte sich mit dem Gesang des Windes im Felsen. Niemand antwortete.
    Unten zwischen den Bäumen begannen die Nebel aus ihren Ritzen zu quellen, und Minuten später war der Fels nur noch eine Insel in einem Meer aus weißer Ungewissheit. Matti setzte sich in den Schnee, schlang die Arme um die Knie und biss in einen der kleinen roten Äpfel. Marianne hätte die Äpfel hübsch gefunden, als Dekoration auf einem Tisch, zu Weihnachten vielleicht. Er würde nie mit ihr Weihnachten feiern. Weihnachten … Weihnachten war morgen.
    Der Kaffee war an diesem Morgen bitter von Misstrauen. Durch das Küchenfenster fiel Sonnenlicht, winterglitzernd, und der Holzboden glänzte warm wie

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