Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
einem anderen Ort, weit weg, auf einer Bank in einem Stadtpark, im Sommer. Auf dem Sofa seiner Eltern, an einer Kaffeetafel voller Spitzendeckchen, über die sie gemeinsam lächelten. Er ertappte sich bei dem Gedanken daran, wie sehr seine Mutter sich freuen würde, wenn er Jascha nach Hause mitbrächte. So ein hübsches Mädchen, würde sie sagen, nie hätte ich gedacht, dass du so ein hübsches Mädchen findest.
    Er schüttelte den Gedanken aus seinem Kopf. Er würde seine Eltern nicht wiedersehen. Nicht, wenn er bei Jascha blieb.
    In diesem Moment trat ein Reh auf die Lichtung hinaus, lautlos. Es blieb stehen, seine Ohren spielend, nach allen Seiten lauschend. Jari legte das Gewehr an. Das Reh hob den Kopf und sah ihn an, seine Augen waren dunkel, und für einen Moment glaubte Jari, die Augen der Mädchen zu erkennen. Er zögerte. Da drehte das Reh sich um und floh.
    Er schoss eine Sekunde zu spät. Er traf das Reh, doch es lief noch ein Stück weiter, brach ins Gebüsch, lärmend, raschelnd, den Wald aufweckend. Eine Wolke kleiner Vögel stob in der Nähe auf. Ein Eichelhäher schrie. Jari wartete mit rasendem Herzen, bis alles wieder still war. Wenn sie irgendwo hier in der Nähe waren, Joana und Jolanda, dann würden sie jetzt herkommen, um nachzusehen, was geschehen war.
    Und er würde sagen: Ich habe ein Reh geschossen.
    Und sie würden fragen: Wo ist Branko?
    Und er könnte nichts erwidern, er säße in der Falle wie die Nachtigall unter dem äthergetränkten weißen Tuch.
    Ein kleines Mädchen in einem Wald, vor dem Eingang einer Höhle.
    Ein kleines Mädchen mit einer Feder in der Hand.
    Das war das erste Bild.
    Der alte Herr sah das Bild lange an, ohne es zu verstehen. Das Bild war beinahe unheimlich – ganz abgesehen davon, dass es erstaunlich gut war, erstaunlich naturalistisch für neunjährige Kinderhände, fotografisch beinahe. Etwas war geschehen im Wald der raschen, genauen Pinselstriche; oder etwas würde geschehen, bald.
    Er fragte Jascha, was.
    »Ich weiß nicht«, sagte sie und zuckte die schmalen Schultern. »Ich habe es nicht allein gemalt. Jolanda und Joana haben geholfen. Vielleicht hat eine von ihnen das gemalt, was geschehen ist.«
    »Was will das Mädchen mit der Feder bei der Höhle?«, fragte der alte Herr. »Hat es sie dort gefunden?«
    Jascha schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.«
    »Dann hat es sie dorthin mitgenommen?«
    Sie zuckte die Schultern. »Kann sein.«
    Er wusste natürlich, was in der Höhle geschehen war. Er wusste von der Entführung und ihrem schrecklichen Ende, obwohl sie nie darüber gesprochen hatten. Die Polizei hatte den Entführer, der am Leben geblieben war, nie gefunden. Vielleicht war der Wald zu dicht, oder die Grenzen zu Polen und Tschechien zu nah, und es hatte zu lange geregnet. Die Mörder, dachte der alte Herr, überleben immer.
    Er würde niemanden zwingen, zurückzugehen in die Welt außerhalb des Waldes. Mehr noch, er fühlte sich geschmeichelt, dass jemand bei ihm bleiben wollte, in der Welt seiner persönlichen Schönheit oder, je nachdem, der Welt von Emmas Schönheit. Aber das, was auf dem Bild geschehen war oder noch geschehen würde, war nicht das Ende der Entführung, waren nicht die Schüsse in der Höhle. Es war, das spürte er, etwas anderes.
    Ein paar Wochen später fand er das Bild in der Realität wieder. Er war auf einem seiner ausgedehnten Spaziergänge bis zu der Höhle gegangen, und da stand sie: ein kleines Mädchen mit einer Feder in der Hand. Jascha. Er selbst blieb still zwischen den Bäumen stehen. Sie hatte ihn nicht bemerkt. Er hörte sie singen.
    »Still, still, meine Nachtigall,
    still, still.
    Und wenn der Wind weht
    und wenn der Tag geht
    und wenn die Nacht kommen will,
    sitz ich am alten Ort,
    doch du bist nicht mehr dort,
    still, still.«
    Er erinnerte sich vage an die Zeitungsartikel, die er im Dorf überflogen hatte. Der Vater der drei Mädchen hatte sie seine Nachtigallen genannt. War die Feder, die sie in der Hand hielt, die sanftgraue Feder einer Nachtigall?
    Sie schob einen der kleineren Felsbrocken beiseite, legte die Feder darunter und schob ihn zurück an seinen Platz. Kein Windstoß konnte die Feder jetzt fortwehen, kein Vogel sie zum Nestbau davontragen.
    »Joana«, hörte er sie sagen. »Jolanda. Jascha. Drei.«
    Dann verließ sie die Höhle und hopste in den Wald wie ein gewöhnliches kleines Mädchen, das mit sich selbst in den Sonnenflecken Haschen spielt, ein kleines Mädchen mit violetten Bändern

Weitere Kostenlose Bücher