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Solange es hell ist

Solange es hell ist

Titel: Solange es hell ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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für die sie immer nur Verachtung übrig gehabt hatte.
    Plötzlich schossen ihr die Worte des Vikars durch den Sinn:
    »Selbst für diese Menschen kommt einmal die Stunde der Bewä h rung.«
    War dies ihre Stunde? War dies ihre Versuchung? Hatte sich die Anfechtung, heimtückisch als Pflicht verkleidet, eingestellt? Sie war Clare Halliwell, eine Christin, voller Nächstenliebe und Barmherzigkeit gegenüber jedermann – auch Frauen. Falls sie Gerald informieren wollte, musste sie absolut sicher sein, dass sie sich von keinerlei persönlichen Motiven leiten ließ. Einstweilen würde sie nichts sagen.
    Sie bezahlte die Rechnung für das Mittagessen und trat die Heimfahrt an, erfasst von einem unbeschreiblichen Gefühl der Erleichterung. Sie war sogar glücklicher, als sie es seit Langem gewesen war. Sie war froh, dass sie die Kraft besessen hatte, der Versuchung zu widerstehen, die Kraft, nichts Niederträchtiges oder Unwürdiges zu tun. Nur ganz kurz schoss es ihr durch den Kopf, dass es vielleicht das Gefühl der Macht war, das ihre Stimmung so gehoben hatte, doch sie verbannte diesen Gedanken als abwegig.
     
    Am Dienstagabend stand ihr Entschluss fest. Von ihr würde Gerald es nicht erfahren. Sie musste Stillschweigen bewahren. Ihre heimliche Liebe zu Gerald machte es ihr unmöglich zu sprechen. Ausgesprochen hochherzig, diesen Standpunkt zu vertreten? Vielleicht; aber es war der einzige, der für sie infrage kam.
    Sie traf in ihrem kleinen Wagen in Medenham Grange ein. Sir Geralds Chauffeur stand an der Haustür, um das Auto in die Garage zu fahren, nachdem sie ausgestiegen war, denn es war ein regnerischer Abend. Er war gerade abgefahren, als Clare die Bücher einfielen, die sie ausgeliehen und mitgebracht hatte, um sie zurückzugeben. Sie rief dem Chauffeur nach, doch dieser hörte sie nicht. Der Butler lief hinaus und folgte dem Wagen.
    Somit stand Clare einige Minuten allein in der Halle, direkt vor der Tür zum Salon, die der Butler bereits aufgeklinkt hatte, um den Gast anzukündigen. Die im Zimmer Versammelten wussten jedoch nichts von Clares Ankunft, und so kam es, dass Viviens hohe Stimme – nicht gerade die Stimme einer Dame – laut und deutlich zu hören war.
    »Ach, wir warten nur noch auf Clare Halliwell. Sie kennen sie bestimmt – lebt drüben im Ort –, ist angeblich eine von den Dorfschönen, in Wahrheit aber furchtbar unattraktiv. Sie hat alles versucht, um sich Gerald zu angeln, aber er wollte nichts von ihr wissen.«
    »O doch, mein Schatz«, sagte sie als Antwort auf den leisen Protest ihres Mannes, »das hat sie, auch wenn du dir dieser Tatsache vielleicht nicht bewusst bist, aber sie hat wirklich ihr Möglichstes getan. Die arme alte Clare! Eine gute Seele, aber so schrecklich hausbacken!«
    Clares Gesicht wurde leichenblass, und ihre am Körper herabhängenden Hände ballten sich vor Wut, einer Wut, wie Clare sie noch nie empfunden hatte. In diesem Moment hätte sie Vivien Lee umbringen können. Nur unter Aufbietung aller Kräfte gelang es ihr, die Beherrschung wiederzugewinnen. Dies und der noch vage Gedanke, dass es in ihrer Macht stand, Vivien für diese grausamen Worte zu bestrafen.
    Der Butler war mit den Büchern zurückgekommen. Er machte die Tür auf, kündigte Clare an, und schon im nächsten Moment begrüßte sie ein Zimmer voller Leute auf ihre übliche freundliche Art.
    Vivien, die ein elegantes Kleid in einem dunklen Burgunderrot trug, das ihre blasse Zartheit unterstrich, war besonders liebevoll und überschwänglich. Clare lasse sich ja viel zu selten bei ihnen blicken. Sie, Vivien, wolle jetzt Golf spielen lernen, und Clare müsse sie unbedingt auf den Golfplatz begleiten.
    Gerald war sehr aufmerksam und zuvorkommend. Obwohl er keine Ahnung hatte, dass Clare die Worte seiner Frau mit angehört hatte, hatte er das unbestimmte Gefühl, diese wiedergutmachen zu müssen. Er hatte Clare sehr gern und wünschte, Vivien würde nicht derartige Sachen sagen. Er und Clare waren Freunde gewesen, mehr nicht – und falls er im Stillen den leisen Verdacht hegte, dass er in diesem Punkt der Wahrheit auswich, so wies er ihn weit von sich.
    Nach dem Dinner kam das Gespräch auf Hunde, und Clare erzählte von Rovers Unfall. Sie wartete bewusst, bis eine Gesprächspause eintrat, und sagte dann:
    »… und so bin ich am Sonnabend mit ihm nach Skippington gefahren.«
    Sie hörte, wie Vivien Lees Kaffeetasse plötzlich laut gegen die Untertasse schlug, aber sie sah sie nicht an – noch

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