Solange es hell ist
sein, und so führte Clare ihr Vorhaben pflichtbewusst aus. Das Städtchen Skippington lag etwa vierzig Meilen entfernt, was eine längere Fahrt mit dem Wagen bedeutete, aber Reeves, der dortige Tierarzt, wurde weit und breit gerühmt.
Er diagnostizierte innere Verletzungen, äußerte sich jedoch zuversichtlich, was die Heilung betraf, und so ließ Clare ihren Hund beruhigt in seiner Obhut zurück.
Es gab nur ein einziges annehmbares Hotel in Skippington, das County Arms. Es wurde hauptsächlich von Handlungsreisenden frequentiert, da die Umgebung von Skippington Jagdliebhabern nichts zu bieten hatte und der Ort für Autofahrer zu sehr abseits der Fernstraßen lag.
Das Mittagessen wurde erst ab ein Uhr serviert, und da bis zur vollen Stunde noch ein paar Minuten fehlten, vertrieb sich Clare die Zeit damit, einen Blick in das ausliegende Gästebuch zu werfen.
Plötzlich stieß sie einen erstickten Schrei aus. Diese Handschrift kannte sie doch, diese Schleifen und Kringel und Schnörkel! Sie hatte diese Schrift immer für unverwechselbar gehalten. Selbst jetzt hätte sie schwören können – aber das war natürlich völlig ausgeschlossen. Vivien Lee war in Bournemouth. Der Eintrag selbst bewies, dass es ausgeschlossen war: Mr und Mrs Cyril Brown, London.
Aber unwillkürlich kehrten ihre Augen wieder und wieder zu der geschwungenen Handschrift zurück, und einer plötzlichen Regung folgend, die sie selbst nicht ganz verstand, fragte sie die Frau am Empfang unvermittelt:
»Diese Mrs Cyril Brown. Könnte es sein, dass ich sie kenne?«
»Eine kleine Frau? Rötliches Haar? Sehr hübsch. Sie kam in einem roten Zweisitzer, Madam. Einem Peugeot, glaube ich.«
Dann war sie es! Eine zufällige Übereinstimmung wäre zu erstaunlich gewesen. Wie in einem Traum hörte sie die Frau weitersprechen:
»Sie waren vor gut einem Monat schon einmal für ein Wochenende hier, und es hat ihnen so gefallen, dass sie wiedergekommen sind. Frisch verheiratet, nehme ich an.«
Clare hörte sich sagen: »Vielen Dank. Dann wird es wohl kaum meine Freundin sein.«
Ihre Stimme klang fremd, als würde sie einer anderen gehören. Kurz darauf saß Clare im Speisesaal und aß ruhig ihr kaltes Roastbeef, während die widersprüchlichsten Gedanken und Gefühle durch ihren Kopf schossen.
Für sie bestand nicht der geringste Zweifel. Sie hatte Vivien schon bei der ersten Begegnung richtig eingeschätzt. Vivien war so eine. Sie fragte sich flüchtig, wer der Mann war. Jemand, den Vivien vor ihrer Heirat gekannt hatte? Höchstwahrscheinlich, aber das war unwichtig – wichtig war nur Gerald!
Wie sollte sie, Clare, sich gegenüber Gerald verhalten? Er musste es doch erfahren – er musste es ganz gewiss erfahren. Es war nur ihre Pflicht und Schuldigkeit, ihn aufzuklären. Sie hatte Viviens Geheimnis durch Zufall entdeckt, aber sie durfte keine Zeit verlieren, Gerald mit den Tatsachen bekannt zu machen. Sie war Geralds Freundin, nicht Viviens.
Aber es war ihr nicht ganz wohl dabei. Ihr Gewissen war nicht besänftigt. Auf den ersten Blick waren ihre Überlegungen richtig, aber Pflichtbewusstsein und Neigung kamen sich bedenklich entgegen. Sie gestand sich ein, dass sie Vivien nicht leiden konnte. Falls Gerald Lee sich scheiden ließ – und Clare zweifelte nicht im Mindesten daran, dass er genau das tun würde, da er ein Mann mit einem geradezu fanatischen Ehrgefühl war –, dann, ja dann war der Weg frei, und Gerald würde zu ihr kommen. Die Deutlichkeit dieser Aussage ließ sie peinlich berührt zurückschrecken. Ihr Vorhaben erschien ihr plötzlich schändlich und gemein.
Persönliche Gefühle spielten eine allzu große Rolle. Sie konnte sich ihrer eigenen Motive nicht völlig sicher sein. Clare war im Grunde ein hochherziger, gewissenhafter Mensch. Und so bemühte sie sich nun aufrichtig, herauszufinden, was ihre Pflicht war. Sie wollte wie immer das Richtige tun. Aber was war in diesem Fall richtig? Was falsch?
Durch puren Zufall war sie in den Besitz von Fakten gelangt, die das Leben des Mannes, den sie liebte, und der Frau, die sie hasste und – warum es nicht offen zugeben? – auf die sie zutiefst eifersüchtig war, entscheidend berührten. Sie konnte diese Frau ruinieren. Aber hatte sie das Recht dazu?
Clare hatte sich stets von dem böswilligen Klatsch und Tratsch ferngehalten, der ein unvermeidlicher Bestandteil des dörflichen Lebens ist. Doch nun hatte sie das widerwärtige Gefühl, selbst einem dieser Lästermäuler zu gleichen,
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