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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Herausforderung bezeichnen konnte, nichts, das an die Schwierigkeiten heranreichte, mit denen er es täglich in seinem Studium zu tun bekam. In der Woche ihres Dinners im Randolph Hotel hatte er sich mit dem Ricci-Skalar beschäftigt und endlich begriffen, wie dieser in der allgemeinen Relativitätstheorie verwendet wurde. Endlich glaubte er diese außerordentlichen Gleichungen zu kapieren. Einstein war nichts Abstraktes mehr, sondern sinnlich greifbar, Beard konnte fühlen, wie die nahtlose Struktur der Raumzeit durch Materie gekrümmt wurde, wie diese Struktur die Bewegung von Gegenständen beeinflusste, wie die Gravitation durch die Raumkrümmung herbeigezaubert wurde. Er konnte eine halbe Stunde lang die Handvoll Buchstaben und Zeichen der verzwickten Feldgleichungen anstarren und verstehen, warum Einstein von ihrer unvergleichlichen Schönheit gesprochen und warum Max Born gesagt hatte, sie seien die größte Leistung menschlichen Denkens bei der Beschreibung der Natur.
    Dieses Verstehen war das geistige Gegenstück zum Stemmen sehr schwerer Gewichte - beim ersten Versuch nicht zu schaffen. In den Vorlesungen und Praktika, die er und seinesgleichen täglich von neun bis fünf absolvierten, versuchten sie mit einigen der schwierigsten Dinge klarzukommen, die jemals gedacht worden waren. Die Geisteswissenschaftler hingegen hatten bloß zwei Seminare pro Woche, für die sie sich erst mittags aus dem Bett zu wälzen brauchten. Er vermutete, dass dort nichts besprochen wurde, was ein halbwegs intelligenter Mensch nicht verstehen konnte. Er hatte vier der besten Aufsätze über Milton gelesen. Er wusste Bescheid. Und doch gebärdeten sich diese Leute, als seien sie ihm geistig überlegen, diese Langschläfer, und er hatte sich von ihnen einschüchtern lassen. Damit war jetzt Schluss. Seit er Maisie erobert hatte, war er geistig frei.
    Als Beard viele Jahre später diese Geschichte und seine Schlussfolgerungen daraus einem Englischprofessor in Hongkong erzählte, bemerkte dieser: »Aber Michael, Sie haben nicht begriffen, worum es geht. Hätten Sie neunzig Mädchen mit neunzig Dichtern verführt, eins pro Woche im Lauf von drei Studienjahren, und hätten Sie sie am Ende alle noch im Kopf gehabt, die Dichter, meine ich, und Ihre Lektüre zu einer ästhetischen Gesamtschau zusammengefügt, dann hätten Sie in der Tat einen akademischen Titel in englischer Literatur verdient. Aber glauben Sie nur nicht, dass das so einfach ist.«
    Damals aber war es ihm so vorgekommen, und im letzten Jahr seines Studiums war er geradezu euphorisch. Maisie auch. Auf ihr Drängen ließ er sich die Haare wachsen, trug Jeans statt Flanellhosen und hörte auf, Sachen zu reparieren. Das sei uncool. Und sie wurden cool, auch wenn sie beide ziemlich klein geraten waren. Er gab sein Zimmer in der Park Town auf und suchte sich mit ihr zusammen eine winzige Wohnung in Jericho. Ihre Freunde, allesamt Literatur- und Geschichtsstudenten, wurden seine. Sie waren geistreicher als seine anderen Freunde, und fauler natürlich, sie lebten nach dem Lustprinzip, als sei die Welt ihnen etwas schuldig. Er entwickelte neue Ansichten - über die Verteilung des Reichtums, Vietnam, die Ereignisse in Paris, die bevorstehende Revolution und auch über lsd , das er für außerordentlich bedeutsam hielt, auch wenn er sich weigerte, es selbst zu nehmen. Wenn er sich so schwadronieren hörte, war er selbst kein bisschen überzeugt und wunderte sich, dass niemand ihn als Betrüger entlarvte. Er probierte Pot, fand es aber sehr unangenehm, weil es sein Gedächtnis beeinträchtigte. Trotz der üblichen Partys mit dröhnender Musik und billigem Wein in durchweichten Pappbechern arbeiteten er und Maisie fleißig weiter. Der Sommer kam und mit ihm die Examen, und dann - Überraschung! - war auch schon alles vorbei, und ihre Clique löste sich auf.
    Beide schlossen mit Bestnoten ab. Michael bekam die ersehnte Doktorandenstelle an der Universität von Sussex. Gemeinsam fuhren sie nach Brighton und fanden ein schönes Haus, das sie im September beziehen wollten, ein altes Pfarrgebäude in einem abgelegenen Dorf in den Sussex Downs. Da die Miete für sie allein zu hoch war, einigten sie sich vor ihrer Rückkehr nach Oxford darauf, mit einem Pärchen zusammenzuziehen, das Theologie studierte und neugeborene eineiige Zwillinge hatte. Das Lokalblatt von Chingford brachte einen Artikel über das Mädchen aus einer Arbeiterfamilie, das »den Aufstieg geschafft« habe, und im

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