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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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dem siebzehnten Jahrhundert. Er bat sie, etwas ausführlicher von ihrem Aufsatz zu erzählen. Das tat sie. Er wagte eine sachkundige Stellungnahme. Überrascht ging sie ins Detail. Um eine ihrer Bemerkungen zu illustrieren, zitierte er: »Wo er vom Morgen bis zum Mittag fiel«, worauf sie den Schluss der Zeile hauchte: »Und immerfort bis zum betauten Abend.« Darauf bedacht, nicht allzu forsch zu klingen, sprach er von Miltons Kindheit, dann vom Bürgerkrieg. Manches davon wusste sie nicht und bat um nähere Auskunft. Von Miltons Leben hatte sie wenig Ahnung, und erstaunlicherweise schien der Lehrplan auch nicht vorzusehen, dass die Studenten sich mit dem historischen Hintergrund beschäftigten. Beard steuerte sie auf vertrautes Gebiet zurück. Sie rezitierten noch einige ihrer Lieblingsverse.
    Er fragte sie, welche Aufsätze sie gelesen habe. Einige davon kannte er auch und ließ dies unaufdringlich einfließen. Er hatte sich eine Bibliographie angesehen, und seine Darlegungen gingen weit über das wirklich Gelesene hinaus. Sie mochte Comus noch weniger als er, also wagte er eine zaghafte Verteidigung und ließ sich von ihr widerlegen.
    Dann sprach er von den Areopagitica und ihrer Bedeutung für die aktuelle Politik. Plötzlich blieb sie mitten auf dem Weg stehen und fragte, wie ein Naturwissenschaftler dazu komme, so viel über Milton zu wissen, und er dachte schon, sie habe ihn durchschaut. Er tat ein klein wenig beleidigt. Ihn interessiere alles, sagte er, die Abgrenzungen zwischen den Fächern seien doch völlig beliebig, historischen Zufällen und der Trägheit der Tradition geschuldet. Um seine Argumentation zu untermauern, bediente er sich einzelner Bemerkungen, die er bei befreundeten Anthropologen und Zoologen aufgeschnappt hatte. Zum ersten Mal mit einer Spur von Wärme in der Stimme begann sie ihm Fragen über ihn selbst zu stellen, nur von Physik wollte sie nichts hören. Wo er herkomme? Aus Essex, sagte er. Sie doch auch! Aus Chingford! Das war seine Chance, und er ergriff sie. Er lud sie zum Essen ein. Sie sagte ja.
    Dieser diesige, sonnige Novembernachmittag am Cherwell River nicht weit von der Rainbow Bridge galt ihm als Stichtag, an dem seine erste Ehe ihren Anfang nahm. Drei Tage später führte er sie zum Essen ins Randolph Hotel, nachdem er sich noch einmal einen ganzen Tag lang intensiv mit Milton beschäftigt hatte. Es stand bereits fest, dass sein spezielles Interesse im Studium dem Licht galt, und so zog ihn das gleichnamige Gedicht naturgemäß an; er hatte die letzten zwölf Zeilen auswendig gelernt, und über der zweiten Flasche Wein sprach er zu ihr vom Pathos dieser Verse: Ein Blinder, der zunächst Klage darüber führe, was er niemals sehen werde, und dann die erlösende Macht der Phantasie besinge. Das Weinglas in der Hand, trug er ihr über das gestärkte Tischtuch hinweg die Stelle vor: »... drum scheine heller du, o himmlisch Licht, im Innern mir, durchflamme jede Kraft des Geistes, pflanze dahinein die Augen, und reinige sie von jedem Nebelflor, dass solche Ding' ich singen kann und schaun, die unsichtbar dem sterblichen Gesicht.« Bei diesen Worten sah er in Maisies Augen Tränen aufsteigen; er griff unter seinen Stuhl und zog sein Geschenk hervor, die Areopagitica-Ausgabe von 1738, in Kalbsleder gebunden. Maisie war platt. Eine Woche später weilte er verbotenerweise in ihrem Zimmer, und zu den Klängen von >Sergeant Pepper< auf dem Dansette-Plattenspieler, den er ihr am Nachmittag mit qualmendem Lötkolben repariert hatte, wurden sie endlich ein Paar. Der Ausdruck »verdorbenes Mädchen«, der sie zu Gemeingut machte, war ihm jetzt zuwider. Immerhin war sie im Bett viel kühner und wilder, experimentierfreudiger und großzügiger als jede andere, die er bis dahin gehabt hatte. Und ihre Rindfleisch-Nieren-Pastete war phantastisch. Er kam zu dem Schluss, dass er verliebt war.
    Die Eroberung von Maisie war nur dank Ausdauer und exakter Planung gelungen und verschaffte ihm große Befriedigung; es war ein Wendepunkt in seinem Leben, als ihm klarwurde, dass kein noch so kluger Literaturstudent, auch nicht im dritten Studienjahr, fähig gewesen wäre, sich nach einer Woche Lektüre gegenüber seinen Mathe- und Physikkommilitonen zu behaupten. Der Frontenwechsel funktionierte nur in eine Richtung. Seit seiner Milton-Woche erschien ihm das Ganze als gigantischer Bluff. Die Leserei war anstrengend, aber er stieß dabei auf nichts, was man auch nur entfernt als intellektuelle

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