Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
Vom Netzwerk:
trotzdem. Am nächsten Tag fuhr er zum Krankenhaus zurück, und während sie schwitzend seine Hand hielt, versicherte er ihr, geborgener und glücklicher als er sei noch nie ein Kind aufgewachsen, niemals habe er sich vernachlässigt gefühlt oder an ihrer Liebe gezweifelt, nie mehr habe er so gut gegessen, auch bewundere er ihren Lebenshunger und könne nur hoffen, dass er den von ihr geerbt habe. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er eine Rede hielt. Diese Halb- und Viertelwahrheiten waren das Beste, was er je von sich gegeben hatte. Sechs Wochen später war sie tot. Natürlich kam ihr Liebesleben zwischen Vater und Sohn nie zur Sprache, aber noch Jahre danach konnte Michael nicht durch Chelmsford oder die umliegenden Dörfer fahren, ohne sich zu fragen, ob dieser oder jener alte Mann, der da herumtaperte oder zusammengesunken an einer Bushaltestelle saß, einer von den siebzehn war.
    Nach damaligen Maßstäben war er frühreif. Als er nach Oxford kam, hatte er bereits mit zwei Mädchen geschlafen. Er besaß ein Auto, einen Morris Minor mit geteilter Frontscheibe, für den er eine Garage in einer Nebenstraße der Cowley Road gemietet hatte, und er bekam von seinem Vater ein Taschengeld, das weit über dem seiner Kommilitonen lag. Er war klug, kontaktfreudig, eigensinnig; Jungen, die von berühmten Schulen kamen, beeindruckten ihn nicht, eher empfand er ein wenig Verachtung für sie. Er war einer dieser ebenso unliebsamen wie unentbehrlichen Burschen, die in jeder Schlange ganz vorne standen, Karten für Großereignisse in London ergatterten und binnen weniger Tage strategisch wichtige Leute ausgekundschaftet und damit kurze Wege und gute Verbindungen hatten. Er sah wesentlich älter als achtzehn aus, war fleißig, zielstrebig und ordentlich, besaß einen Terminkalender, den er sogar benutzte. Hilfesuchend wandte man sich an ihn, weil er einen Lötkolben sein Eigen nannte und Radios und Plattenspieler reparieren konnte. Selbstverständlich verlangte er für solche Dienstleistungen kein Geld, hatte jedoch ein Händchen dafür, Gefälligkeiten einzufordern.
    Nach wenigen Wochen hatte er eine Freundin, Susan Doty, ein »schlimmes« Mädchen von der Oxford High School. Andere Jungen, die Mathe und Physik studierten, waren meist verschlossen und unscheinbar. Außerhalb der Praktika und Seminare hielt Michael sich von ihnen fern, ebenso wie er den Geisteswissenschaftlern aus dem Weg ging, die einen mit unverständlichen literarischen Anspielungen einschüchterten. Stattdessen hielt er sich an die Ingenieure, die ihm Zugang zu den Werkräumen verschafften, und die Geographen, Zoologen und Anthropologen, insbesondere diejenigen unter ihnen, die bereits Feldforschung im Ausland betrieben hatten. Beard kannte viele Leute, hatte aber keine wirklichen Freunde. Er war nicht direkt beliebt, aber sehr bekannt; man sprach von ihm, man bediente sich seiner und sah ein bisschen auf ihn herab.
    Während er sich gegen Ende seines zweiten Studienjahrs an die Vorstellung zu gewöhnen versuchte, dass seine Mutter bald sterben würde, bekam Beard in einem Pub einmal zufällig mit, wie jemand eine gewisse Maisie Farmer, eine Studentin vom Lady Margaret Hall College, als »verdorbenes Mädchen« bezeichnete, und zwar durchaus anerkennend, als sei dies ein etablierter Begriff von nüchterner Präzision. Ihr Name, der nach Unschuld vom Lande klang, faszinierte ihn in diesem Zusammenhang. Er stellte sich ein dralles, mit Dung bespritztes Bauernmädchen auf einem Traktor vor, vergaß sie dann aber wieder. Das Semester endete, er fuhr nach Hause, seine Mutter starb, und der Sommer verging in Trauer und Langeweile und lähmender Sprachlosigkeit zwischen ihm und seinem Vater. Sie hatten noch nie über Gefühle gesprochen, jetzt fehlten ihnen dafür die Worte. Als er einmal vom Haus aus beobachtete, wie sein Vater sich im Garten tief über die Rosen beugte, war er peinlich berührt, nein entsetzt, als er am Beben der Schultern erkannte, dass sein Vater weinte. Es kam Michael nicht in den Sinn, zu ihm hinauszugehen. Von den Liebhabern seiner Mutter zu wissen, aber nicht zu wissen, ob sein Vater davon wusste (er vermutete, eher nicht), war ein weiteres unüberwindliches Hindernis.
    Im September fuhr er nach Oxford zurück und nahm ein Zimmer im obersten Stock eines Hauses in der Park Town, einer heruntergekommenen gutbürgerlichen Wohnstraße, die in zwei Bögen eine kleine Grünanlage umspannte. Sein Fußweg zum Physikalischen Institut

Weitere Kostenlose Bücher