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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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hinter der Kantine - lange Zeit der einzig gemütliche Ort im ganzen Institut -, ließ seine Gedanken zum Gegenstand seiner Besessenheit zurückschweifen und konzentrierte sich mit einer fast angenehmen Schwere in den Gliedern auf gewisse Details, die er in letzter Zeit vernachlässigt hatte. Doch erst noch musste er sich aus seinem Stuhl stemmen und das Gemurmel des Fernsehers runterdrehen, der ewig auf denselben Nachrichtensender eingestellt war. Bush gegen Gore, ein Thema, das die ganze kostbare Aufmerksamkeit der nicht wahlberechtigten Mehrheit der Weltbevölkerung in Anspruch nahm. Er setzte sich wieder hin und griff nach einem Keks.
    Patrice war mit Abstand die schönste aller seiner Ehefrauen, besser gesagt, sie war mit ihrem markanten Gesicht und ihrem blonden Haar, wie ihm jetzt schien, die einzige schöne Frau, die er je gehabt hatte. Die anderen vier waren an wahrer Schönheit knapp vorbeigeschrammt, die Nase zu schmal, der Mund zu breit, kleine Mängel an Kinn oder Stirn; diese nicht so vollkommenen Frauen wirkten nur aus einer bestimmten Perspektive reizvoll, man musste guten Willen zeigen, seine Phantasie anstrengen oder sich von seinem Verlangen täuschen lassen. Also, bestimmte Details an Patrice. Ihr schmales Hinterteil, zum Beispiel. Man konnte es mit einer großen Hand umfassen. Die sahnige Straffheit ihrer Haut zwischen den vorstehenden Beckenknochen. Der verblüffende Reichtum ihrer feinen, hellblonden Schamhaare. Würde er diese Schätze jemals wiedersehen? Und jetzt musste er, so unsinnlich das war, an den Bluterguss unter ihrem Auge denken. Sie sprach nicht mit ihm, also würde er die Wahrheit vielleicht nie erfahren. Ihm blieben nur Wahrscheinlichkeiten. Angenommen, sein Trick hatte funktioniert, Patrice war von der Frau in seinem Zimmer, deren Schritte er mit den Handflächen auf die Treppenstufen getrommelt hatte, nicht in Wut, sondern in Wehmut versetzt worden, hatte plötzlich geahnt, was sie an ihm verlieren würde, hatte deshalb mit Tarpin Schluss gemacht und ihm gesagt, sie gehe zu ihrem Mann zurück - und ihn damit zu einem Zornausbruch gereizt. In diesem Fall war ihre blaugeschlagene Wange ein Zeichen, dass sie fast wieder ihm, Beard, gehörte. Aber da steckte zu viel Wunschdenken drin. Also was dann?
    Mechanisch stopfte er sich einen Keks nach dem anderen in den Mund. Vielleicht nahm die Geschichte einen unwahrscheinlichen Lauf. Die meisten Dinge waren unwahrscheinlich. Es gab verprügelte und gebrochene Frauen, die sich nicht von ihren gewalttätigen Männern lösen konnten. Vertreterinnen von Frauenhäusern klagten häufig über diese Laune der menschlichen Natur. Wenn sie sich nicht gegen ihr Schicksal auflehnte, würde sie noch oft ins Gesicht geschlagen werden. Seine schöne Patrice. Unerträglich. Unvorstellbar. Also was tun? War es möglich, dass sie Michaels Mitgefühl ebenso wenig ausstehen konnte wie Rodneys Gewalt und sie alle beide loswerden wollte? Oder aber er käme eines Abends in sein Schlafzimmer, und sie wartete dort schon auf ihn, nackt auf dem Ehebett, die Beine gespreizt wie in alten Zeiten, und er ging auf sie zu, flüsterte ihren Namen, und jetzt war auch er nackt. Es war so einfach, er würde sich neben sie legen, die Hand ausstrecken und ihre linke... Aber er war nicht mehr allein, und er brauchte nicht mal aufzublicken, um zu wissen, wer in der Tür stand.
    Ohne sich Kaffee zu nehmen - Stimulanzien waren für ihn tabu, und er fand, auch Beard sollte sich damit zurückhalten -, setzte Aldous sich neben seinen Chef und kam umstandslos zur Sache: »Ich möchte Sie dringend bitten, den Artikel über Dünnschicht-Solarmodule in der nächsten Ausgabe von Nature zu lesen.«
    Eine ganze Menge von dem Blut, das in Beards Gehirn sein sollte, befand sich noch in seinem Penis, auch wenn es jetzt abfloss; sonst hätte er bestimmt die Geistesgegenwart besessen, Aldous einfach wieder wegzuschicken.
    Also sagte er nur: »Braby sucht Sie.«
    »Habe ich gehört. Sie haben sich meinen Turbinenentwurf angesehen.«
    »Wahrscheinlich ist er jetzt in seinem Büro.«
    Aldous spielte den Überarbeiteten. Er nahm seine Baseballmütze ab, lehnte sich im Sessel zurück und schloss die Augen. »Ich hätte den Entwurf vernichten sollen.«
    »Sieht doch ganz vielversprechend aus«, sagte Beard gegen seinen Willen. Er misstraute jedem, der außerhalb eines Baseballfeldes eine Baseballmütze trug, ganz gleich wie herum.
    »Eben. Die Idee ist bahnbrechend. Gleichmäßiges Drehmoment!

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