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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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verdrossen, nicht weil der Planet in Gefahr war - wieder dieses schwachsinnige Wort -, sondern weil jemand ihm davon mit solcher Inbrunst vorschwärmte. Genau das konnte er an politisch engagierten Leuten nicht leiden - Ungerechtigkeiten und Katastrophen beflügelten sie, das war ihr Lebenselixier, sie labten sich daran.
    Tom Aldous jedenfalls war vom Klimawandel völlig in Beschlag genommen. Gab es für ihn noch etwas anderes? Ja, allerdings. Die Emissionen seines Autos beunruhigten ihn, aber er hatte einen Mechaniker in Dagenham gefunden, der ihm helfen würde, es auf Batteriebetrieb umzustellen. Der Antrieb war in Ordnung, das Problem war die Batterie - die würde er alle dreißig Meilen aufladen müssen. Wenn er nicht schneller als achtzehn Meilen pro Stunde fuhr, könnte er es damit gerade so zur Arbeit schaffen. Irgendwann gelang es Beard, ihn auf private Dinge zu bringen, indem er sich erkundigte, wo er wohne. Im Gartenhäuschen seines Onkels in Hampstead. Jedes Wochenende fahre er nach Swaffham zu seinem Vater, der an chronischer Lungenentzündung leide. Die Mutter sei schon lange tot.
    Er hatte gerade mit der Geschichte seiner Mutter begonnen, als sie in Belsize Park ankamen. Beard unterbrach ihn mit Dankesbekundungen, froh, ihn nun endlich loszuwerden, doch Aldous war schon aus dem Wagen gesprungen und beeilte sich, die Beifahrertür aufzumachen und ihm beim Aussteigen behilflich zu sein.
    »Geht schon, geht schon«, sagte Beard gereizt, aber er hatte in letzter Zeit so zugenommen, dass er es fast nicht schaffte, sich allein aus der tiefliegenden Karre herauszustemmen. Aldous, wieder ganz der Pfleger im Irrenhaus, begleitete ihn den Gartenweg hoch zur Haustür und fragte, als Beard seinen Schlüssel hervorzog, ob er die Toilette benutzen dürfe. Wie sollte er ihm das abschlagen? Erst als sie das Haus betraten, fiel ihm ein, dass Patrice an diesem Tag ihren freien Nachmittag hatte, und schon sah er sie am oberen Ende der Treppe: Mit verwegener blauer Augenklappe, in engen Jeans, blassgrünem Kaschmirpullover und türkischen Pantoffeln kam sie ihnen freundlich lächelnd entgegen, und nachdem ihr Mann sie mit Aldous bekanntgemacht hatte, bot sie den beiden Kaffee an.
    Zwanzig Minuten lang saßen sie am Küchentisch, und wie liebenswürdig sie war, wie reizend sie das Köpfchen neigte, während sie der Geschichte von Tom Aldous' Mutter lauschte und anteilnehmend Fragen stellte, dann die Geschichte ihrer eigenen Mutter erzählte, die ebenfalls jung gestorben war. Als man sich weniger ernsten Themen zuwandte, sah sie Beard in die Augen, während sie lachte, sie bezog ihn ein, sie hörte mit halbem Lächeln zu, wenn er sprach, schien amüsiert, wenn er einen Witz machte, und als sie ihn einmal unterbrach, berührte sie sogar seine Hand. Tom Aldous sprühte plötzlich vor Eloquenz und Humor und brachte die beiden mit einer Anekdote über seinen Vater zum Lachen, einen respekteinflößenden Geschichtslehrer, der heute ein streitsüchtiger Pflegefall sei und sein Heimessen an einen gefräßigen Rotmilan verfüttere. Aldous wandte sich immer wieder grinsend ab und tastete verlegen nach seinem Pferdeschwanz. Er hatte vollständig vergessen, in welcher Gefahr sich der Planet befand.
    Und so plauderten die Eheleute in aller Eintracht mit dem munteren jungen Mann, und als es Zeit zum Abschied war, stand fest: Ein Wunder war geschehen, Patrice hatte ihr Verhalten gegenüber ihrem Mann grundlegend geändert. Beard konnte immer noch nicht glauben, dass sein Trick mit der Phantomfrau auf der Treppe funktioniert hatte. Er brachte Aldous zu seinem Auto und eilte ins Haus zurück, um mehr in Erfahrung zu bringen. Aber die Küche war leer, die benutzten Tassen standen noch auf dem Tisch, das Haus war wieder still. Patrice hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen, und als er hinaufging und bei ihr anklopfte, erteilte sie ihm eine Abfuhr. Sie hatte ihn nur mit einem flüchtigen Eindruck vergangenen Glücks quälen wollen. Jetzt sollte er ihre Abwesenheit zu spüren bekommen.
    Erst am nächsten Abend sah er sie wieder, als sie in der Duftwolke eines ihm unbekannten Parfüms das Haus verließ.

    Wochen vergingen, kaum etwas änderte sich. An der Grundschule von Patrice begann nach den Herbstferien wieder der Unterricht. Abends zensierte sie Arbeiten, bereitete Stunden vor, und drei- oder viermal die Woche verließ sie gegen sieben oder acht das Haus und ging zu Tarpin. Als Ende Oktober die Uhren zurückgestellt wurden und der

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