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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Gartenweg schon im Dunkeln lag, wenn sie verschwand, wurde ihre Abwesenheit noch spürbarer. Immerhin war aus dem Vorhaben, ihren Liebhaber zum Abendessen einzuladen, nichts geworden, zumindest nicht während Beard im Haus war. Gelegentlich zwangen ihn Konferenzen, auswärts zu übernachten, aber wenn er zurückkam, fand er keinerlei Hinweise, dass Tarpin da gewesen sein könnte, höchstens glänzte der Eichentisch im Esszimmer stärker als sonst, oder die Küche war besonders aufgeräumt, alle Töpfe und Pfannen an ihrem Platz.
    Anfang November betrat er einmal den Vorratsraum im hinteren Teil des Hauses, um eine Glühbirne zu holen. Auf den gemauerten Regalen dieses kalten, fensterlosen Verschlags lagerten keine Vorräte, sondern allerlei ausrangierte Haushaltssachen, Gerumpel und unerwünschte Geschenke. Durch einen Lüftungsschlitz in der hinteren Wand fielen nadeldünne Lichtstrahlen, auf dem Boden darunter stand eine verdreckte Segeltuchtasche. Er blieb davor stehen, und während die Wut in ihm aufstieg, bemerkte er, dass die Tasche nicht geschlossen war, also schob er sie mit dem Fuß ganz auf. Darin lag Werkzeug - Hämmer in verschiedenen Größen, Unterlegklötze und schwere Schraubenzieher, obendrauf das Einwickelpapier eines Schokoriegels, ein brauner Apfelbutzen, ein Kamm und, wie er angewidert feststellte, ein gebrauchtes Papiertaschentuch. Tarpin konnte die Tasche nicht dagelassen haben, als er das Bad renoviert hatte, denn das war viele Monate her, und Beard hätte sie garantiert bemerkt. Die Sache war eindeutig. Während er in Paris oder Edinburgh gewesen war, war der Bauhandwerker direkt von der Arbeit zu Patrice gekom men, hatte am nächsten Morgen sein Werkzeug vergessen oder es nicht gebraucht, und sie hatte die Tasche hier drin verstaut. Am liebsten hätte er die Werkzeugtasche auf der Stelle rausgeworfen, aber die Griffe starrten vor Schmutz, und es ekelte ihn, etwas anzufassen, das Tarpin gehörte. Er fand eine Glühbirne, ging in die Küche und genehmigte sich einen Whisky. Es war drei Uhr nachmittags.
    Früh am nächsten Morgen, einem kalten Sonntag, fand er auf einer Rechnung Rodney Tarpins Adresse. Er sparte sich das Rasieren, trank drei Tassen starken Kaffee, stieg in ein Paar alte Lederstiefel, die ihn zwei Fingerbreit größer machten, streifte ein Holzfällerhemd über, das seine Oberarme muskulöser aussehen ließ, und machte sich auf nach Cricklewood. Im Autoradio ausschließlich amerikanische Angelegenheiten. Die Kommentatoren ritten immer noch auf dem Attentat einer Gruppe namens Al Qaida herum, die vor einem Monat einen Bombenanschlag auf das Kriegsschiff USS Cole verübt hatte, aber das Hauptthema war und blieb wie schon den ganzen Sommer und Herbst hindurch Bush gegen Gore. Beard konnte das schon lange nicht mehr hören. Er war kein Bürger der usa , er hatte kein Stimmrecht bei dieser Wahl, und trotzdem zwangen ihn die Sender, für die er auch noch Gebühren zahlen musste, sich diesen langweiligen Mist in allen Einzelheiten anzuhören. Er war ausgesprochen unpolitisch - bis in die Fingerspitzen, wie er zu sagen pflegte. Er verabscheute die überhitzten Scheindebatten, die Anstrengungen beider Seiten, die Argumente der jeweils anderen zu verdrehen und misszuverstehen, den Gedächtnisschwund, der hinter jeder »Neuheit« steckte. Beard faszinierte an den Vereinigten Staaten, dass ihnen drei Viertel des weltweiten Wissenschaftsbetriebs gehörten. Der Rest war Schaumschlägerei, in diesem Fall ein Machtkampf innerhalb einer Elite - der privilegierte Sohn eines ehemaligen Präsidenten gegen den hochgeborenen Sohn eines Senators. Die Wahllokale waren schon lange geschlossen, und wie es aussah, hatte Gore Bush angerufen und das Eingeständnis seiner Niederlage zurückgezogen. In Florida war der Ausgang so knapp, dass die Stimmen noch einmal maschinell ausgezählt werden sollten - »Seit meinem ersten Anruf hat sich eine neue Lage ergeben«, lautete Al Gores zurückhaltende Erklärung dazu.
    Im Amt müssten sich beide denselben Zwängen beugen, sich denselben Tatsachen fügen, auf Berater hören, die an denselben Hochschulen mit fast denselben Lehrmeinungen gefüttert worden waren - die feinen Unterschiede interessierten Beard nicht. Während er durch Swiss Cottage fuhr, kam er zu dem wohlüberlegten Schluss, dass es der Welt egal sein konnte, ob Bush oder Gore, Tweedledum oder Tweedledee, in den ersten vier oder acht Jahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts Präsident der Vereinigten

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