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Soldaten

Soldaten

Titel: Soldaten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sönke Neitzel
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Fähigkeiten, Schwächen und Vorlieben mit in die Situationen, die sie dechiffrieren und in denen sie handeln müssen. In diesem Sinn bilden soziale Situationen immer Gelegenheitsstrukturen, die in unterschiedlichen Freiheitsgraden genutzt und ausgeweitet werden können. Das hängt dann tatsächlich von der Person ab, und gewiss ist es so, dass die vereinseitigten Machtverhältnisse in Konzentrationslagern oder bei Massenerschießungen den eher gewaltbereiten SS -Männern, Reservepolizisten oder Wehrmachtsoldaten als Gelegenheiten entgegenkamen, eigene sadistische Bedürfnisse oder nur Neugier zu befriedigen, während sie bei eher sensiblen und gewaltfernen Personen Abscheu hervorriefen. Es ist also ein Unterschied, wer mit welcher Persönlichkeitsausstattung mit welcher Situation konfrontiert ist. Aber man sollte das Gewicht dieser Differenzen nicht überschätzen: Wie der Holocaust und der nationalsozialistische Vernichtungskrieg zeigen, verhält sich die weit überwiegende Mehrheit aller Zivilisten und Soldaten bzw. SS -Männer und Polizisten ausgrenzend, gewaltbereit und gegenmenschlich, wenn die entsprechende Situation das nahezulegen und zu fordern scheint, und nur eine verschwindende Minderheit ist widerständig und prosozial. Weil genau das nach zeitgenössischen Maßstäben als abweichend gilt und das gegenmenschliche Verhalten als konform, haben wir mit dem ganzen Geschehenszusammenhang des »Dritten Reiches« und der von ihm ausgehenden Gewalt ein gigantisches Realexperiment, wozu psychisch normale und ihrem Selbstbild nach gute Menschen fähig sind, wenn sie etwas innerhalb ihres Referenzrahmens für geboten, sinnvoll oder richtig halten. Der Anteil der von ihrer psychischen Ausstattung her persönlich zu Gewalt, Ausgrenzung und Exzessen neigenden Menschen betrug hier wie unter allen anderen gesellschaftlichen Bedingungen auch etwa fünf bis zehn Prozent.
    Psychologisch betrachtet, waren die Bewohner des nationalsozialistischen Deutschland so normal wie die jeder anderen Gesellschaft jener Zeit. Und das Spektrum der Täter entsprach dem normalgesellschaftlichen Spektrum ziemlich genau; keine Personengruppe zeigte sich immun gegen die Verlockungen der »unbestraften Unmenschlichkeit« (Günter Anders). Dieses Realexperiment reduziert die Bedeutung von Persönlichkeitsvariablen nicht auf null, sie misst ihr nur einen vergleichsweise geringen, oft sogar unerheblichen Stellenwert bei.

Abschießen
    »Es ist mir ein Bedürfnis geworden, Bomben zu werfen. Das prickelt einem ordentlich, das ist ein feines Gefühl. Das ist ebenso schön wie einen abzuschießen.« [153]
    Oberleutnant der Luftwaffe, 17. 7. 1940
    Man sagt, der Krieg brutalisiere, und die Soldaten würden durch die Gewalterfahrung und die Konfrontation mit zerstörten Körpern, getöteten Kameraden oder, wie im Vernichtungskrieg, massenhaft getöteten Männern, Frauen und Kindern, verrohen. Auch die Wehrmacht und die SS waren besorgt darum, dass die beständige Konfrontation mit extremer Gewalt, sei es die beobachtete oder die selbst begangene, zur Schädigung der »Manneszucht« führe und damit zu einer Regel- und Zügellosigkeit des Gewaltgebrauchs, der nicht im Sinne der Effizienz war, die man für den Kampf wie für die Massentötungen gleichermaßen brauchte. [154] Auch in der historischen und sozialpsychologischen Gewaltforschung spielt der Brutalisierungsaspekt eine bedeutsame Rolle [155]  – hier geht man ebenfalls davon aus, dass die Erfahrung extremer Gewalt zu einer erheblichen Veränderung in der Einschätzung und im Maß des eigenen Gewaltgebrauchs führe. Die autobiographische Literatur bestätigt ebenso wie das Genre des Kriegsromans denselben Befund, den man so zusammenfassen könnte: Soldaten werden brutal, wenn sie über einen bestimmten Zeitraum immenser Brutalität ausgesetzt sind.
    Wie das obige Zitat eines Oberleutnants der Luftwaffe andeutet, könnte diese Vorstellung irreführend sein. Erstens nämlich sieht sie von vornherein davon ab, dass der Gebrauch von Gewalt eine attraktive Erfahrung, zum Beispiel eben »prickelnd« sein kann, und zweitens, dass es möglicherweise nicht mehr als eine ungeprüfte Hypothese ist, wenn man davon ausgeht, man müsse für den Gebrauch extremer Gewalt erst zugerichtet werden. Vielleicht genügen dafür nur eine Waffe oder ein Flugzeug, Adrenalin und das Gefühl von Macht über Dinge, über die man sonst keine Macht hat. Und ein sozialer Rahmen, in dem das Töten erlaubt, ja sogar

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