Soldatenglück - Sedlatzek-Müller, R: Soldatenglück
Samstag verbringe ich bei meinen Eltern, dann muss ich, mit einem schweren Seesack bepackt, die Reise quer durch die Republik bis nach Oberbayern antreten. Herrlich, in Bayern war ich noch nie und jetzt bin ich dorthin auf dem Weg, um den ersten Flug meines Lebens anzutreten, den ich dann mit einem Fallschirmsprung beenden sollte. Es ist ein ruhiger Sonntagmorgen im November. Da es sich um eine Dienstreise handelt, ist es meine Pflicht, in Uniform zu reisen. Damit ist allerdings nicht der tarnfarbene Feldanzug gemeint, den wir gerne scherzhaft als den »leichten Biertrinkeranzug« bezeichnen, sondern der »kleine Diener«. Es ist die Ausgehuniform des Heeres: eine graue Anzugjacke, deren Schnitt sich seit den Sechzigerjahren nicht geändert hat, zu der man ein hellblaues Hemd mit Krawatte, eine schwarze Bügelfaltenhose und Halbschuhe trägt. Die Uniform ist vielleicht nicht ganz so kleidsam wie die der Luftwaffe oder Marine, aber ich trage sie mit sehr viel Stolz. Nicht zuletzt wegen des bordeauxroten Fallschirmjägerbaretts, das ich ab morgen allerdings erst mal im Spind lassen muss. Traditionell setzt man das Barett erst zum Ende des Springerlehrgangs wieder auf, wenn einem das begehrte Abzeichen mit den Schwingen an die Brust gesteckt wird. Das Recht, es zu tragen, muss man sich, wie schon bei der Grundausbildung, erst verdienen.
Mit meiner guten Laune ist es vorbei, als ich in die Bahn steige und erkenne, dass ich die nächsten 13Stunden wahrscheinlich im Stehen oder auf meinem Seesack hockend verbringen muss, weil der Dienstherr mir zwar eine Fahrkarte für den IC stellt, eine Sitzplatzreservierung aber nicht für nötig hält. Einen Augenblick später steigt meine Laune wieder, als ich unter den anderen Soldaten, die mit mir im Gang zwischen den Abteilen hocken, ein paar bekannte Gesichter aus meiner Kaserne sehe. Wir kommen ins Gespräch und haben kein anderes Thema als den bevorstehenden Lehrgang. Die Geschichten und Anekdoten, die wir nur aus Erzählungen kennen, tragen wir uns gegenseitig vor, als hätten wir sie selbst erlebt. Alle sind betont gelassen und furchtlos. Über so etwas wie Höhenangst reden wir nicht – obwohl die insgeheim meine größte Sorge ist. Doch ich tue so, als würde ich zweifellos alles meistern. In Wahrheit weiß ich nicht mal, ob ich meinen ersten Flug überstehe.
Statt uns mit unseren Ängsten zu befassen, kommen wir lieber auf »Die Kutsche« zu sprechen. In jeder Stadt, zu der eine Kaserne gehört, scheint es eine Kaschemme zu geben, die fast ausschließlich von Soldaten besucht wird und von Frauen, die ein großes Herz für sie haben, sozusagen. Einer der alten Hasen meiner Kompanie sagte mir, dass es sich bei der »Kutsche« um eben solch ein Lokal handele. Man könne dort gut tanzen, flirten und Spaß haben, solange man sich höflich benehme, keinen Streit anfange und den Abend rechtzeitig beende. Denn irgendwie komme es zu fortgeschrittener Stunde immer zu einer Art Massenschlägerei. Da einem bereits bei Lehrgangsbeginn der Besuch dieser Kneipe verboten werde, gebe es kein Pardon, wenn man dort von der Polizei oder, schlimmer noch, der Militärpolizei erwischt werde – mit der Folge, dass man die freien Wochenenden künftig mit dem Schrubben der Toiletten und Bodenfliesen im Kasernengebäude verbringen müsse.
Die lange Bahnreise vergeht durch die Gesellschaft meiner Kameraden schneller als erwartet. Wir verstehen uns so gut, dass wir beschließen, den vierwöchigen Lehrgang über zusammenzubleiben und uns gegenseitig zu unterstützen.
An der Luftlandeschule Altenstadt müssen wir uns auf dem großen Gelände erst einmal orientieren und unseren Unterkunftsblock suchen. Am Sonntagabend werden wir noch verschont, aber bereits vor dem Frühstück wird offenbar, dass hier wieder ein Ton herrscht wie in der Grundausbildung. »Antreten! Richt’ euch! Durchzählen!«, schallt es uns schon am Kasernentor entgegen. Bei einer ersten Führung über das Gelände beobachten wir, wie Soldaten im Laufschritt von einer Ausbildungsstation zur nächsten marschieren. Sie tragen den typischen Springerhelm aus Stahl. Er fällt sofort auf, weil der tief gezogene Nackenschutz des normalen Gefechtshelms fehlt, mit dem man sich beim Öffnen des Schirms mit den Fallschirmleinen den Helm unsanft vom Schädel reißen würde, was schnell zu einem Halswirbelbruch führen kann. Auf dem Rücken tragen die Soldaten den 13 Kilogramm schweren Fallschirm, der, nach einem bestimmten Prinzip
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