Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
Quasi-Zerfall der Staatengebilde. Das alles ist eine unverrückbare Konsequenz. Wir können daran nichts ändern. Doch das alles gibt uns nicht das Recht, uns in eine Gesellschaftsordnung zurück zu flüchten, die Ausgangspunkt der meisten dieser Miseren gewesen ist, nur weil es uns beim Vergessen und Ignorieren hilft. Sehen Sie, meine Studenten haben vor einigen Wochen eine Befragung durchgeführt, eine Befragung einfacher Passanten auf der Straße. Es ist erschreckend zu sehen, wie viele Bürger unserer noch immer hochentwickelten Stadt keine Antwort mehr auf die Frage wissen, was sie mit New York verbinden. Der letzte Überseekontakt liegt noch keine 30 Jahre zurück, es gibt nur eine Erklärung für diese Amnesie: sie ist gewollt! Die Gesellschaft will vergessen, weil die Vergangenheit ungemütlich ist. Aber das ist gefährlich! Wer weiß schon, was sich anderswo in der Welt zusammenbraut? Wir haben durch die Revolte der Natur und die großen Blackouts nicht nur den Kontakt zu wichtigen Städten verloren, sondern auch zu einer großen Zahl von Krisengebieten. Niemand weiß, was dort vor sich geht. Ist denn niemandem die Gefahr bewusst, die sich darin verbirgt?“
Rasmus Riga – freier Dozent am Institut für Gesellschafts- und Kulturforschung der Beauvoir-Stiftung – hielt inne und ließ den Blick durch den großen, kaum gefüllten Stadtsaal gleiten. Er hätte auf die nicht weiter nennenswerte Zuschauerzahl beim „Forum für kulturelles Lernen“ als Beispiel für das von ihm gepredigte gefährliche Vergessen hinweisen können, doch wem machte er etwas vor? Die wenigen Anwesenden waren von der Regierung abgestellte Musterzuhörer oder Polizisten in Zivil, einige Studenten des Instituts, die mehrheitlich an seinen in der zurückliegenden Stunde präsentierten Ergebnissen mitgewirkt hatten, und ein paar wenige Endzeitpropheten, die auf Inspiration für ihre verwirrte Straßenpolemik hofften. Rasmus tröstete sich damit, dass seine Studenten gekommen waren, obwohl sie den Inhalt des Vortrags bereits kannten. Er bedankte sich beim Publikum für das Zuhören ohne sich die Mühe zu machen, seinen Sarkasmus zu verstecken, dann verließ er die Bühne, packte seine Sachen zusammen und verließ das Gebäude durch den nächsten Ausgang.
Er sah auf die Uhr. Es war kurz nach zehn. Zeit genug um ein Stück zu Fuß am Seine-Ufer entlang zu gehen, bevor er sich ein Shuttle westwärts nahm, wo er zu einem Blind Date im Underdock erwartet wurde. Das letzte Mal, dass er im Underdock war, war an dem Tag, als Ninive ihm erzählt hatte, wann ihre Mission starten würde. Er wusste zu dem Zeitpunkt bereits seit fast zwei Jahren, dass dieser Moment irgendwann kommen würde, aber als ihn ihre Nachricht erreicht hatte, war es dennoch wie ein Schock für ihn. Er war übermüdet an diesem Tag und hatte sie nicht direkt zurückgerufen, obwohl er wusste, dass ihre gemeinsame Zeit nun mit jeder Minute ablief. Er hatte ein schlechtes Gewissen deswegen gehabt, auch wenn er wusste, dass sie ihm keine Vorwürfe machen würde.
Ninive verkörperte alles das, was Rasmus einer fiktiven Antiheldin andichten würde, wenn er irgendwann neben seiner Arbeit Zeit dafür finden würde, sich der Schriftstellerei zu widmen. Er hatte große Pläne, wollte über die Zukunft schreiben, wie sie sich entwickelt hätte, hätten nicht die Blackouts und die Revolte der Natur, wie die andauernde globale Serie von Naturkatastrophen seit den späten 2030er Jahren genannt wurde, die Weltgesellschaft auseinandergerissen. Und auch wie sich Ninive und Rasmus entwickelt hätten, wäre sie nicht abgereist. Und wäre sie kein Klon, erinnerte er sich, und damit ist alles, was ich schreibe, keine alternative Zukunft sondern nur noch Fiktion.
Ein Leben mit ihr war nicht immer einfach gewesen, und die rationale Einsicht, dass er sich unter einer funktionierenden Beziehung etwas anderes vorstellte, überwiegte meistens. Doch wenn es darum ging, in einer Liga aus Superhelden den Planeten zu retten, dann wären Ninive und er in einem Team, soviel war klar. Sie hatten sich das erste Mal beim Kickboxen getroffen. Eine sehr prosaische Art sich zu treffen, kein guter Anfang für eine Superheldengeschichte. Aber Rasmus hatte es eher mit Antihelden, also nahm er diesen Umstand hin.
Bevor er Ninive kennengelernt hatte, war Rasmus ein eindeutiger Gegner des Klon-Programms gewesen. 2015 entdeckten Forscher eine Art Energie im menschlichen Organismus, die bei einigen Probanden einer
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