Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
weitgehend geheim gehaltenen Studie besonders stark ausgeprägt war. Diese Probanden konnten konditioniert werden und waren zu Dingen fähig, die man bis dahin ins Reich der Legenden geschoben hatte. Das Bewegen kleiner Gegenstände mittels Gedankenkraft, das Anpassen der eigenen Wahrnehmung auf thermische Felder und ähnliche Dinge. Nichts, was ihnen Superheldenkräfte verliehen hätte, aber medizinisch beachtenswerte Entdeckungen. Als das Forschungsprogramm einige Zeit später – der Medienrummel um diese Entdeckung war bereits wieder verebbt – zu der Erkenntnis kam, dass sich aus einfachen menschlichen Zellen und der entdeckten Energie, die nach dem Namen des Forschungszentrums Sangre-Energie genannt wurde, Föten entwickeln ließen, wurde – anfangs noch abseits der Augen der Öffentlichkeit – damit begonnen, menschliche Klone zu züchten, die ein besonders hohes Maß an Sangre-Energie hatten.
Die ersten Versuche überlebten nicht lange, doch die Forscher machten schnell Fortschritte und so wurden vor mittlerweile fast 80 Jahren die ersten Kinder der Öffentlichkeit präsentiert, die reine Sangre-Klone waren. Doch bald stellte sich heraus, dass die Fähigkeiten durch die Konzentration der Sangre-Energie nicht so stark gefördert wurden, wie angenommen. Als dann in den Folgejahren einige der ersten Klone mit Gewaltausbrüchen Schlagzeilen machten, in deren Folge schließlich sogar zwei Menschen starben, stand das Programm kurz vor dem Aus. Doch unter Zusicherung, dass die Klone zukünftig innerhalb einer geschlossenen Anstalt bleiben müssen, konnte es schließlich fortgesetzt werden.
Erst in den letzten fünfzig Jahren machte die Entwicklung der Neurohemmer, die den Klonen zur Kontrolle ihres Stoffwechsels eingepflanzt wurden, einige entscheidende Fortschritte, sodass den Klonen unter strengen Auflagen ab dem 16. Lebensjahr Freigang gewährt wurde. Ninive gehörte zu den wenigen Klonen, die mit 21 Jahren erfolgreich ihre „Sozialtauglichkeit“ nachweisen und fortan ein Leben außerhalb der Forschungsanstalt führen konnten.
Rasmus wandte sich vom Fluss ab und stieg einige Stufen hoch zur Haltestelle. Er schüttelte die trüben Gedanken ab und blinzelte in das Licht der gegenüberliegenden Schaufenster, die sich dicht an dicht entlang der schmalen Ufergasse drängten. Es war Zeit sich auf den Weg zu machen. Das Blind Date wartete und Rasmus hatte nicht vor, die nächste Nacht alleine zu verbringen.
05 | LILIAN
Ninive hingegen hatte die Nacht alleine verbracht. Nachdem sie in ihr Abteil zurückgekehrt war, hatte sie endlich den dringend benötigten Schlaf gefunden. Doch die Nacht war kurz, und gegen sechs Uhr saß Ninive im Speisewagen und kämpfte mit ihrem Frühstück. Ihr war nicht nach essen zumute. Und eigentlich war ihr auch immer noch nicht nach Gesellschaft zumute, dennoch hatte sie sich dazu durchgerungen in den Speisewagen zu gehen. Irgendwann musste sie sich ohnehin unter ihren Mitreisenden blicken lassen. Und nun saß sie alleine an einem Tisch in einer Ecke des Wagens und drehte nachdenklich einen Apfel in ihrer Hand, ohne diesen zu essen.
„Pardon, darf ich?“ Die Frage riss sie aus ihren Gedanken, und erschrocken stellte Ninive fest, dass sie die Frau, die diese gestellt hatte, nicht hatte kommen sehen. Eine Nachlässigkeit, die sie ärgerte.
Ninive machte eine knappe Geste, doch die Frau hatte bereits ihr gegenüber Platz genommen und unsanft ihren übergroßen Kaffeebecker auf dem Tisch abgestellt, so dass einige Tropfen bis auf Ninives Tellerrand spritzten. Ninive sah langsam auf, warf einen nachdrücklichen Blick auf den verspritzten Kaffee und begutachtete dann ihre Gegenüber. Sie war eine zierliche Frau mit einem schmalen Gesicht und großen dunklen Augen, vor der ihr Kaffeebecher wie eine übergroße Schüssel wirkte, die sie in ihren schmalen, knochigen Fingern hielt. Die wilden, leicht gewellten dunkelbraunen Haare hatte sie an ihrem deutlich ausgeprägten Hinterkopf mit einem altmodisch geblümten, blauen Tuch nachlässig hochgebunden. Ihre Haut war deutlich dunkler als Ninives. Vermutlich eine Spanierin, nahm Ninive an.
„Ich bin Lilian“, stellte sich die Frau vor und ihr Mundwinkel zuckte knapp, als sie Ninives Blick begegnete, der sie etwas zu lange und eingehend gemustert hatte um nicht aufzufallen. Sie sprach den Namen eindeutig französisch aus.
„Ich hätte dich eher für eine Spanierin gehalten“, entgegnete Ninive ungelenk.
„Das höre ich nicht zum
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