Solo
neun-neun-neun.
Der Mann aus Kreta stieß Maria
vorwärts. Das Mädchen stolperte und verlor einen Schuh, ehe
sie vor der Tür zum Arbeitszimmer ihres Herrn stehenblieb. Sie
zögerte, dann klopfte sie an.
Max Cohens «Herein» klang
ein wenig überrascht, denn es war eiserne Hausregel, daß er
in seinem Arbeitszimmer unter keinen Umständen vor acht Uhr abends
gestört werden durfte. Er sah Maria in der Tür stehen,
schreckensbleich und mit nur einem Schuh, und dann wurde das
Mädchen beiseite gestoßen, der Mann aus Kreta erschien und
in seiner Hand die Pistole mit Schalldämpfer. Sie hustete einmal.
Max Cohen hatte in seiner Jugend
geboxt, und einen Augenblick lang war es, als stünde er wieder im
Ring. Bekäme einen erstklassigen Schwinger mitten ins Gesicht, der
ihn glatt auf die Bretter schickte. Und dann lag er auf dem Rücken
in seinem Arbeitszimmer.
Seine Lippen versuchten, die Worte jenes
gebräuchlichsten aller hebräischen Gebete zu formen, das
jeder orthodoxe Jude drei-, viermal am Tag spricht, des letzten Gebets,
das er im Tod stammelt. «Höre, Israel, der Herr ist unser
Gott, der Herr ist einzig.» Doch die Worte wollten nicht kommen,
und das Licht schwand jetzt sehr rasch, und dann war nur noch
Dunkelheit.
Als der Mann aus Kreta durch die
Haustür nach draußen lief, schwenkte der erste Streifenwagen
der telefonisch alarmierten Polizei in die Straße ein, und er
konnte weitere Wagen hören, die schnell näher kamen. Der Mann
sprang durch den Garten ins Dunkle und kletterte über die Mauer in
das angrenzende Grundstück. Wenig später öffnete er ein
Tor und trat in eine enge Gasse. Er zog die Kapuze hinunter, riß
sich die Wollmütze vom Kopf und eilte davon.
Schon wurde die Beschreibung seiner
Person, wie das Mädchen sie der Besatzung des zuerst am Tatort
eingetroffenen Streifenwagens gegeben hatte, per Funk verbreitet. Was
den Mann nicht kümmerte. Ein paar hundert Meter, und er würde
im stockdunklen Regent's Park verschwunden sein. Ihn durchqueren bis
zur jenseitigen U-Bahnstation, am Oxford Circus umsteigen.
Er trat auf die Fahrbahn, als er Bremsen kreischen hörte. Eine Stimme rief: «He, Sie da!»
Es war ein Streifenwagen, wie ein
rascher Blick ihm verriet, und er schlüpfte in die nächste
Seitenstraße und fing an zu rennen. Er hatte Glück, wie
immer, denn während er an der Reihe parkender Autos entlanglief,
sah er, daß kurz vor ihm gerade jemand einstieg. Die Tür
knallte zu, der Motor wurde angelassen.
Der Mann aus Kreta riß die Tür wieder
auf, zerrte den Fahrer, Kopf voran, aus dem Sitz und sprang hinter das
Lenkrad. Er ließ den Motor aufheulen, riß das Steuer herum,
schrammte den Kotflügel des vor ihm parkenden Fahrzeugs und raste
davon, als der Streifenwagen mit seinen Verfolgern um die Ecke gerast
kam.
Er jagte über die Vale Road nach
Paddington. Wenn er die Polizisten abschütteln wollte, mußte
es schnell gehen, das wußte er: innerhalb von Sekunden
würden sämtliche Streifenwagen im Stadtviertel auf diese
Gegend zuhalten und sie abriegeln.
Das Umleitungsschild an einer
Baustelle, ein nach rechts weisender Pfeil, ließ ihm keine Wahl.
Eine Einbahnstraße, eng und finster, die zwischen
Lagerhäusern zum Güterbahnhof Paddington führte.
Der Streifenwagen war jetzt dicht
aufgerückt – zu dicht. Der Mann gab noch mehr Gas und sah,
daß er in einen langen enge n Tunnel unter den Gleisen einfuhr,
und dann erfaßten seine Scheinwerfer ein Stück weiter vorn
eine Gestalt.
Es war ein Mädchen auf einem
Fahrrad. Ein junges Mädchen in braunem Dufflecoat, um den Hals
einen gestreiften Schal. Er sah ihr weißes entsetztes Gesicht,
als sie sich umblickte. Das Fahrrad schwankte.
Er riß den Wagen zur Seite, der
äußere Kotflügel schlug Funken aus der Tunnelwand.
Vergebens. Es war einfach nicht genug Platz. Ein dumpfer Aufprall,
nichts weiter, und dann wurde das Mädchen von der Kühlerhaube
herunter und zur Seite geschleudert.
Der Streifenwagen bremste scharf. Der Mann aus Kreta fuhr weiter, aus dem Tunnel und in die Bishops Bridge Road.
Fünf Minuten später
ließ er das Auto in einer Nebenstraße in Bayswater stehen,
überquerte die Bayswater Road und ging schnellen Schritts durch
die nächtlichen Kensington Gardens zum Queen's Gate.
Als er zur Royal Albert Hall kam, sah er dort eine
große Menschenmenge und eine Schlange von Wartenden die Treppe
hinauf bis zum Kassenschalter, denn an diesem Abend
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