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Solom: Der Wanderprediger (German Edition)

Solom: Der Wanderprediger (German Edition)

Titel: Solom: Der Wanderprediger (German Edition)
Autoren: Scott Nicholson
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Schatten seines Gesichts unter der breiten Krempe verschwand. Dann faltete er die Hände und stand da wie eine Vogelscheuche. Die Ziegen hörten auf zu kauen und wandten sich ihm zu, eine nach der anderen. Es war totenstill. Die einzigen Geräusche waren das Rascheln der Blätter, die der Septemberwind vor sich hertrieb, und das Knacken des Jeep-Motors, der knisternd abkühlte. Selbst die Krähen auf den Wipfeln der Bäume waren verstummt.
    Die Ziege, die Alex am nächsten stand – die, die er eigentlich hatte erschießen wollen – ging ein paar Schritte auf den Mann mit dem Hut zu und blökte leise. Eine andere Ziege, die weiter oben am Hang graste, blökte zurück, und dann fielen alle anderen ein. Es war kein hungriges Blöken, wie es Ziegen oft von sich gaben, wenn sie fressen wollten. Diese Laute klangen sanft und fast zärtlich, wie ein kleines Baby, das sich der Brust seiner Mutter nähert.
    Der Alte Zausel – er erinnerte Alex an den Film »Dead Man Walking – Sein Letzter Gang« – hielt seinen Kopf weiterhin nach unten gebeugt. Dann hob er langsam seine Arme, bis sie waagerecht von seinem Körper abstanden. Er sah aus wie ein riesiger Vogel, der jeden Moment abheben wollte. Dennoch waren seine Bewegungen anmutig und bedächtig. Er schien voll und ganz im Einklang mit sich selbst zu sein. Die Ziegen bewegten sich alle gleichmäßig auf ihn zu. Als erstes erreichte ihn ein dicker, alter Bock mit dreckigem Ziegenbart, der größte von allen. Er schnupperte an seinem wollenen Überzieher. Der Mann blieb völlig unbewegt. Nur sein Körper schien sich ein wenig zu entspannen. Seine Hände baumelten gelöst an seinen erhobenen Armen. Die anderen Ziegen drängten sich nun ebenfalls um ihn. Ihre Nüstern blähten sich, als sie seinen Geruch einsogen.
    Der Bock, der am dichtesten bei ihm stand, stupste mit der Nase gegen seinen Mantel. Dann öffnete er sein Maul und knabberte an dem Stoff. Der Mann machte keine Bewegung. Nur seinen Kopf hielt er nach wie vor schief. Die Ziegen drängten sich dichter um ihn herum und pressten ihre Mäuler an seine Haut. Der große Bock zerrte an seinem Überzieher, erst sanft und dann immer stärker, bis der unterste Knopf aufsprang. Auch die anderen Ziegen knabberten an dem Stoff. Sie warfen die Köpfe zurück und bissen sich in dem Mantel fest. Ihr Blöken wurde immer drängender.
    Alex fragte sich, ob der Alte Zausel irgendeinen Duft trug, der die Ziegen anzog. Manche Rotwildjäger bespritzten ihre Anzüge mit Hirschurin, in der Hoffnung, damit die Rehe aus dem Wald anzulocken. Vielleicht gab es ja auch einen speziellen Geruch, der die Ziegen verrückt machte. Wobei Ziegen eigentlich zahm waren, so dass man sich nicht an sie heranzupirschen brauchte. Da verließ sich Alex doch lieber auf seine Theorie, dass der Alte die Ziegen schon mal gefüttert hatte und dass sie seinen Geruch mit Getreide oder Zucker in Verbindung brachten. Vielleicht war Alex’ Denkmaschine auch nur durch das selbstangebaute Gras vernebelt. Dieser Ansatz gefiel Alex schon viel besser, denn so konnte er sich in dem Glauben wiegen, dass sein Stoff mythische Fähigkeiten besaß, die einem so richtig das Gehirn ausknipsten. Das war auf jeden Fall besser als zu glauben, dass hier vor seinen Augen irgendetwas Abgefahrenes passierte, das auch dann geschehen würde, wenn der heimliche Beobachter nicht gerade völlig stoned wäre. Er fühlte sich wie Einstein auf LSD, oder wie in einem Gemälde von Escher, wo der Betrachter von drinnen nach draußen zu schauen scheint.
    Ist auch scheißegal, Mann. Das hier passiert so oder so, egal, was für ’ne Theorie du für richtig hältst …
    Verzweifelte Ziegenmäuler zerrten am Mantel des Alten. Die Knöpfe aus Horn schimmerten in der Sonne, als sie in hohem Bogen auf die Erde fielen. Darunter trug der Mann ein langärmeliges Unterhemd aus Flanell. Es war stellenweise zerrissen, so dass seine todbleiche Haut darunter hervorschimmerte. Die Ziegen zerrten an ihm, doch er verlor nicht das Gleichgewicht. Alex fragte sich, warum der Alte die aufdringlichen Viecher nicht einfach von sich stieß.
    Weil du dir das alles hier nur einbildest. Klar doch, Mann. Okay.
    Die Arme des Alten wurden nach unten gezogen, als die Ziegen ihm einen Ärmel seines Mantels abrissen. Zwei Ziegen spielten Tauziehen mit dem wollenen Überzieher und rissen ihn schließlich dem Alten vom Leibe. Der Mantel segelte sanft auf eine Stelle nieder, an der vertrocknete Goldrute stand. Dann hob der Alte den
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