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Solom: Der Wanderprediger (German Edition)

Solom: Der Wanderprediger (German Edition)

Titel: Solom: Der Wanderprediger (German Edition)
Autoren: Scott Nicholson
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die Krähen anfangen würden, darauf so schief zu spielen wie diese christlichen Country-Bands.
    Der Mais war etwa einen halben Meter größer als Ray. Es war ein gutes Jahr gewesen. Im Frühjahr und Sommer hatte es viel geregnet, und der Herbst war mild und spät. Von hier aus, zwischen den Zeilen, konnte er die Vogelscheuche in der Mitte des Feldes nicht sehen. Doch er spürte förmlich ihren Blick, der auf der Suche nach den schwarzen Räubern zwischen den Reihen hindurchschweifte. Über Rays Gesicht huschte ein Lächeln. Seine Stiefel zermalmten Unkraut und Dreckbatzen. Die Luft roch süß, ein Duft, den Gras und Bäume nur kurz vor dem Winter verströmten, wenn der Zucker in ihrem Inneren freigesetzt wurde.
    In der Mitte des Feldes stand eine verrostete 200-Liter-Regentonne. Rays Felder waren nicht bewässert, und das Fass war eine gute Reserve für Trockenperioden. Besonders wenn die jungen Pflänzchen noch ganz zart waren, mussten sie gut gewässert werden. Das war auch die Zeit, in der die Krähen gern von oben herabstürzten, weil die grünen Sprösslinge aus der Luft gut zu erkennen waren. Die Vögel rissen die Körner aus dem Boden und fraßen die frisch gespalteten Samen mitsamt Wurzelspross und allem. Am Fass lehnten verschiedene Feldwerkzeuge, daneben hielt die Vogelscheuche Wache.
    Ray schob die letzten Stängel beiseite, die ihn von der kleinen Lichtung trennten. Das Erste, was ihm auffiel, war das leere Kreuzgestell. Zuerst dachte er, der alte Buck wäre einfach heruntergefallen, vielleicht bei einem Sturm. Vielleicht hatte der Bindedraht irgendwann nachgegeben. Doch unter dem Gestell lagen keine Kleider. Der Boden drumherum war aufgewühlt, so als ob jemand eine schwere Last hinter sich hergezogen hätte. Ray ließ den Schal fallen und rannte zu dem Pfahl, an dem die Vogelscheuche gehangen hatte.
    Von der Vogelscheuche war keine einzige Spur mehr zu erkennen. Ray blinzelte durch die Maiszeilen zum Feldrand. Wahrscheinlich wollte ihm irgendjemand einen Streich spielen. Vielleicht war es einer dieser blöden Halloween-Scherze. Doch wer auch immer seine preisgekrönte Vogelscheuche gestohlen hatte, wusste offensichtlich nicht, dass es Streiche gab, die man lieber lassen sollte.
    Ray durchsuchte mit den Augen die Pflanzenreihen rund um die Tonne. Er hoffte, wenigstens das Gewehr oder den verwitterten Strohhut zu finden. Dann suchte er zwischen den Schleifspuren nach Fußabdrücken. Dabei fiel ihm auf, dass dieser Jemand nichts fortgeschleift, sondern hergezogen hatte! Fußspuren gab es keine, nur kleine Schnörkel auf dem Boden, als ob jemand absichtlich die Spuren verwischt hätte.
    Die Spuren führten zur Wassertonne. Das abgestandene Regenwasser roch nach Rost und Verwesung.
    Ray schaute in die Tonne. Zuerst sah er, wie sich der Himmel in der öligen Oberfläche spiegelte. Die Federwölkchen zogen schmale Streifen, die Sonne sah aus wie vergammeltes Eigelb. Doch unter der Wasseroberfläche schwamm etwas. Ray musste an die Vorstellungen auf den Volksfesten seiner Kindertage denken, bevor die politisch korrekte Gesellschaft beschloss, dass behinderte Menschen mit ihren Missbildungen kein Geld verdienen durften. Er hatte den Fötus siamesischer Zwillinge in milchigem Formaldehyd schwimmen sehen, mit zwei winzigen Ärmchen und Händen, an denen sogar die Fingernägel perfekt ausgebildet waren, und zwei krummen Froschbeinchen. Die beiden Köpfe schauten in unterschiedliche Richtungen. Der eine hing nach vorn, ein trübes Auge war offen. Für seine fünfzig Cent hatte Ray eine Menge geboten bekommen, bevor ihn die gaffende Masse weiter vor sich herschob.
    Die Form in der Tonne erinnerte ihn auf eigenartige Weise daran und war doch ungewöhnlich. Die Gliedmaßen sahen irgendwie anders aus. Ray nahm die Hacke, die neben dem Fass stand, und rührte damit im schmutzigen Wasser. Er zog und zerrte, das Ding schien ziemlich schwer zu sein. Der Gestank schlug ihm ins Gesicht, bevor seine Augen wussten, was sie sahen.
    Es war eine Ziege. Sie war seit mindestens einer Woche tot, das Fleisch sah schon aus wie rosa Seife. Die Eingeweide waren aus dem Bauch herausgerissen worden, die Rippen glänzten in der Nachmittagssonne. Der Kopf baumelte an einem schmalen Hautstreifen herunter. Die Hörner waren abgesägt, so dass nur noch kleine Stümpfe zu sehen waren. Ein Bein fehlte, und in der Bauchhöhle des Tieres steckte ein Fellklumpen. Ray hob die Hacke, an der die Ziege hing, ein Stück höher, um sich das genauer
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