Solom: Der Wanderprediger (German Edition)
gelinst und herausgefunden, dass er Alex Eakins hieß. Einmal in der Woche fuhr eine junge Frau zu ihm rauf, wahrscheinlich aus sündigen Gründen.
»Tag«, rief Betsy von ihrer Veranda aus.
Die Rothaarige blickte auf. Sie hatte gerade einen Stapel Briefe durchgeschaut. Ihre Augen waren rot. Ob sie trank? Doch Betsy verwarf diesen Gedanken schnell wieder, denn ein gottgläubiger Mann wie Gordon würde niemals Alkohol in seinem Haus dulden. Selbst nicht wegen einer ziemlich gutaussehenden Frau, die sie zweifellos war, auch wenn sie anders aussah als die Frauen aus den Bergen.
Ihre Knöchel waren viel zu dünn. Wahrscheinlich würden sie entzweibrechen, wenn sie jemals ein Maultier vor den Pflug spannen und eine gerade Furche ziehen müsste. Aber irgendwie sah sie auch zäh aus, wie ein Stück Rohleder, das man feucht in die Sonne gelegt hatte. Und die Viertelmeile zum Briefkasten war sie zu Fuß gegangen. Andere wären schnell ins Auto gesprungen.
»Hallo, Mrs. Ward«, sagte die Rothaarige. »Gordon hat mir von Ihren Tomaten erzählt.«
Betsy fragte sich, was Gordon wohl noch erzählt haben mochte. Viel gab es nicht zu sagen. Sie kannte Gordon, seit er mit vollen Windeln durch das Haus der Smiths gekrabbelt war. Danach war er fortgegangen und hatte eine gute Ausbildung genossen, aber für sie war er immer noch der kleine Junge, der damals ihre Katze mit einem verfaulten Apfel ins Grab gebracht hatte. Außerdem war sein Blut beschmutzt, wie bei allen Smiths aus Solom.
»Und, wie gefällt es Ihnen in Solom?«
»Schön ist es hier. Allerdings schon ein bisschen anders als das, was ich bisher kannte.«
Betsy war sich nicht sicher, ob die Rothaarige die erste Aussage ernst gemeint hatte. Ihre Mundwinkel hingen nach unten und ihre Augen zuckten, als ob sie überhaupt nicht geschlafen hätte. »Wie hat sich denn Ihr Garten in diesem Jahr so gemacht?«
»Gordon kümmert sich darum«, sagte der Rotschopf und fächelte sich mit den Briefumschlägen Luft zu. »Wir haben Kreuzblütler angebaut, Kohl, Brokkoli und ein bisschen Mais. Gordon meint, ich sollte langsam anfangen was einzukochen.«
Am liebsten hätte sich Betsy nach den Tomaten der Smiths erkundigt, denn an den Tomaten erkannte man, wie gut oder schlecht es um einen Garten in den Bergen stand. Jeder zweitklassige Hühnerdieb, der sich Landwirt nannte, konnte Kohl anbauen. Wem es jedoch gelang, des Mehltaus Herr zu werden, der kannte sich entweder richtig gut aus oder hatte einen von Gott gesegneten Garten. Dieses dürre Ding da war aber erst im Spätsommer hierher gezogen. Von Mehltau hatte sie mit Sicherheit nicht den blassesten Schimmer.
Und bestimmt hatte sie auch nicht die geringste Ahnung von Gordons Urahn, dem Wanderprediger.
Betsy war sich nicht sicher, ob das gut oder schlecht war. Unwissenheit ist manchmal ein Segen, aber Dummheit konnte einen auch ins Grab bringen.
»Wo kommen Sie eigentlich her?«, fragte Betsy. Die Neue sah nicht aus wie eine Yankee-Tussi oder wie die Weiber aus Florida, die in den letzten Jahren das Tal fast an den Rand des Wahnsinns getrieben hatten.
»Ich stamme aus Atlanta, bin aber später in Charlotte hängengeblieben.«
»Aha. Über Charlotte kam schon manchmal was in den Nachrichten.« Betsy wollte eigentlich von all den Schwarzen anfangen, die sich dort gegenseitig umnieteten. Doch es war sicher unchristlich, so etwas zu erwähnen, auch wenn an der Straße zur Kirche überall Südstaatenflaggen wehten. Außerdem hing die Fahne der Rebellen immer direkt unter der amerikanischen Staatsflagge. Daraus schloss sie, dass Lincolns Gesetz nur wenig höherrangig war – natürlich bei Weitem nicht so bedeutend wie die Gesetze Gottes.
Digger, Arvels Border Collie, war unter der schattigen Veranda hervorgekrochen und stand jetzt an der Treppe. Er bellte kurz, um zu zeigen, dass er selbstverständlich die ganze Zeit wachsam gewesen war.
»Es ist schon anders hier«, sagte die Rothaarige, drehte ihr Gesicht in die Sonne und atmete tief ein. »Die Berge und die frische Luft. Es ist ungewohnt für mich, nachts einzuschlafen, ohne dass überall Licht brennt.«
»Wir haben auch Lichter«, entgegnete Betsy. »Die Lichter Gottes. Die kleinen hellen Punkte am Himmel.«
An Betsys Tor blieb der Rotschopf stehen. Digger schnupperte und knurrte.
»Ist gut, Digger«, sagte Betsy. »Das ist unsere Nachbarin.«
»Die Sternbilder«, sagte die Rothaarige und wurde dabei ein bisschen rot. »Man sieht sie bis zum Horizont. Dort, wo ich vorher
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