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Solom: Der Wanderprediger (German Edition)

Solom: Der Wanderprediger (German Edition)

Titel: Solom: Der Wanderprediger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Nicholson
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hervor.
    »Harmon!«, sagte Mose, so laut, dass Gott ihn hören könnte. Schließlich sollte er wissen, dass Mose standhaft war. »Was hast du denn vor?«
    Die Gestalt kam auf ihn zu, groß und schlaksig. Vor dem schwarzen Hintergrund zeichneten sich die Umrisse eines Hutes ab. Das Wesen war ebenso still wie die Ziegen, selbst seine Schritte schwebten lautlos über den Grund. Kein Lufthauch war zu spüren, und um Moses Mitte herum verdickte sich der Nebel. Der Prediger warf einen Blick zurück auf das rechteckige Licht, das aus der Kirchentür floss. Würde Gott ihm vergeben, wenn er ein Zeichen von Schwäche zeigte und blitzartig in den sicheren Schoß der Kirche zurückstürmte? Das wäre kein großer Verrat so wie der von Judas oder Petrus, der Jesus verleugnete, oder der von Pilatus, der seine Hände in Unschuld wusch. Selbst in der Bibel gab es Hunderte von Fällen, wo Menschen schlimmer versagt hatten. Und Mose war auch nur ein Mensch.
    Doch welchen Schutz sollte die Kirche ihm bieten? Harmon Smith konnte durch Wände gehen. Die ganze Erde war eine Kirche Gottes. Also war Mose hier draußen im Nebel genauso gut aufgehoben wie in der größten Kirche der Welt. Der Glaube war kein Ort in der Realität, sondern ein goldener Pfad im Herzen eines guten Mannes.
    Die dunkle Gestalt kam auf ihn zu. Unentwegt und würdevoll. Jetzt stand sie direkt hinter den Ziegen.
    Mose nahm seinen ganzen Mut zusammen und sprach sie an. »Nun, Harmon, eine schöne Nacht haben wir heute, was? Der Nebel ist zwar ziemlich kalt, aber der Himmel ist sternenklar.«
    Die Gestalt erwiderte kein Wort. Zwischen zwei Ziegen trat sie auf den Friedhof.
    Die Form des Hutes stimmte irgendwie nicht. Harmons Hut war oben rund, mit einer breiten, steifen Krempe. Dieser Hut jedoch war flach und rundherum ausgefranst. Auch die Kleidung war nicht richtig schwarz. Harmon trug ein derbes, weißes Leinenhemd, doch diese Gestalt hier hatte etwas Dunkleres an. Mussten sich denn auch ruhelose Seelen ab und zu umziehen?
    In der rechten Hand hielt die Gestalt etwas Krummes, fahl und grimmig wie das Horn einer Ziege.
    Mose trat ein paar Schritte zurück und stieß gegen einen Grabstein. Er fiel um und zerquetschte einen Plastikblumenstrauß.
    »In Ordnung, Harmon, ich habe verstanden. Ich bin nicht so mutig, wie ich gerne wäre.«
    Die Gestalt ging an den Ziegen vorbei und es schien, als ob der Nebel einen kleinen Strudel um sie bildete. Fast schien der Dunst die Gestalt zu liebkosen. Jetzt konnte Mose die Gesichtszüge erkennen. Das Gesicht war von einer Art Tuch bedeckt, und anstelle von Augen waren zwei hornfarbene Knöpfe zu sehen. Aus Ärmeln und Kragen quoll Stroh, und der verschossene Strohhut sah eher aus wie der eines Farmers.
    In der Hand hielt die Gestalt eine Sichel.
    Dort, wo die Lippen sein mussten, bewegte sich die Maske. Der Mund war durch eine dunkle Naht markiert. »Niemand kann zwei Herren dienen«, sagte das Wesen. Seine Stimme war kalt und trocken wie Staub.
    Mose vergaß all seine mutigen Worte und Glaubensprüfungen. Er machte auf dem Absatz kehrt und suchte einen Weg zwischen den Grabsteinen, doch der Nebel war noch dicker geworden und ließ die Bäume verschwimmen. Die Ziegen standen jetzt nicht mehr um den Friedhof herum. Dann schaute er wieder zu der Gestalt, und endlich entstand in seinem Kopf ein Bild, zu dem der Hut und die komische Kleidung passten:
    Eine Vogelscheuche.
    Eine Vogelscheuche auf dem Friedhof.
    Eine sprechende Vogelscheuche, die etwas Scharfes in der Hand hielt.
    Da spießte links von Mose ein gebogenes Horn aus dem Nebel, zu seiner Rechten ein weiteres. Die Ziegen krochen unter dem Nebel hindurch, leise wie Haie, die ihre Beute umzingelten.
    Die Vogelscheuche war jetzt so nah, dass Mose die Löcher in ihren Knopfaugen zählen konnte. Der stechende Geruch von altem Stroh übertünchte sogar den Schwefelgestank des Nebels.
    »Aber warum?«, fragte Mose. Die Frage war nicht nur an die Vogelscheuche, sondern auch an Gott gerichtet.
    Doch von keinem der beiden erhielt er eine Antwort. Dann erhob sich die Sichel und sauste auf ihn nieder.

 
     
     
    32. KAPITEL
     
    Als die Sonne aufging, war der Sonntag frisch und klar. Der Frost hatte eine funkelnde Decke über den Boden gelegt, die im Herbstlicht schnell dahinschmolz. Odus hatte schlecht geschlafen. Immer, wenn er in den Dämmerzustand glitt, galoppierten vor seinen Augen Visionen des Wanderpredigers. Er versuchte sich zu erinnern, was Großmutter Hampton über den

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