Sommer der Entscheidung
aufzulisten. Und drinnen? Tessa mochte sich den Anblick kaum vorstellen. Alles, was sie wusste, war das, was aus den Erzählungen eines Nachbars alle wussten. Als Tessas Mutter Nancy Henry Whitlock ihr diese Unterhaltung geschildert hatte, war sie panisch durch die einzelnen Sätze gehetzt, als fürchte sie, niemals das Ende des Berichts zu erreichen.
„Ich habe keine Ahnung, woher Ron Claiborne überhaupt meine Telefonnummer hat, aber irgendwie hat er sie rausgefunden. Und dann will es wieder keiner gewesen sein, nehme ich an. Dann sagte er“ – und Nancy hatte seine Stimme imitiert: –, „‚Ma’am, es tut mir leid, es sag’n zu müssen, aber Ihrer Mama geht’s nich’ mehr gut. Sie geht nich’ mehr raus, un’ sie lässt auch kein’ mehr rein. Aber ich hab was geseh’n, durch die Tür. Un’ da is’ mir fast das Herz steh’ngeblieb’n. Sie wa’ immer so ordentlich … na ja, sie wa’ immer so … etepetete, wie alte Frauen nu’ mal sind. Wissen Se, was ich mein?‘“
An dieser Stelle hatte Nancy eine Pause gemacht, bevor sie mit ihrer eigenen, ungläubigen Stimme weitergesprochen hatte. „Als ob er dachte, ich wüsste wirklich nicht, worüber er redet.“
Tessa war sich immer noch nicht sicher, ob ihre Mutter über die Nachricht an sich oder eher über den Boten erschrocken gewesen war. Ein Claiborne? Ein trinkfester, lebenslustiger Claiborne zieht über eine Henry her? Tessa war natürlich die Erste gewesen, die Nancy angerufen hatte, nachdem sie das Telefonat mit Ron Claiborne beendet hatte. Nicht, dass Nancy sich von dieser oder irgendeiner anderen Unterhaltung aus der Fassung bringen ließ. Nein, Nancy war einem strikten Ritual gefolgt, das solche Situationen erforderten: Händeringen und Gestikulieren, Zähneknirschen vor Publikum, Litaneien der Sorte „Ich habe es dir ja gleich gesagt,dass es Probleme geben würde“ und „Wenn nur einmal jemand auf mich hören würde …“.
Was das Problem an sich betraf, konnten weder Nancy noch ihre Tochter das ganze Ausmaß erahnen. Helen hatte sich geweigert, Nancy oder Tessas Vater Billy in das Haus zu lassen, als sie sich selbst ein Bild hatten machen wollen. Stattdessen hatte Helen sich lieber mit ihnen im Stehcafé verabredet, das zum Walton-and-Smoot-Drugstore gehörte, aber auch erst, nachdem Nancy ihr mit dem Gesundheitsamt und dem Sheriff gedroht hatte.
Nancy zufolge hatte Helen bei dem Treffen ungepflegt ausgesehen, aber das sollte nichts heißen, denn Nancy brauchte jeden Morgen mindestens eine Stunde, um sich zurechtzumachen. Für sie gab es nichts Schlimmeres als ein liebloses Make-up.
Helen sei an dem Morgen mürrisch gewesen, hatte Nancy später berichtet. Auch das war nichts Neues. Menschen, die Helen kannten, sagten über sie, sie sei an guten Tagen eine muntere, starke und klare Persönlichkeit. Doch sie hatte selten gute Tage. Häufiger war sie übel gelaunt und mürrisch. Eine Frau, die sich nichts bieten ließ.
Also war dies alles in dieser Hinsicht nichts Neues gewesen. Dann jedoch hatte die Geschichte eine überraschende Wendung genommen: Helen hatte zugegeben – und das konnte Tessa noch immer nicht glauben –, dass sie langsamer wurde. Bill hatte sich nicht davon abbringen lassen, geduldig nachzufragen, und da hatte sie zugegeben, nein, sie könne nicht mehr so wie früher, und nein, das Haus sei nicht so sauber, wie es hätte sein sollen, und ja, sie wisse jetzt auch nicht mehr so recht weiter. Helen Stoneburner Henry, die starke Superfrau im Hauskittel, hatte eingeräumt, dass sie möglicherweise, aber auch nur möglicherweise, ein wenig Hilfe gebrauchen könnte.
Natürlich hatte Tessa gleich gewusst, wie die Unterhaltung weitergegangen war, auch ohne dass sie dabei gewesen wäre. Während Billy vorsichtig versucht hatte, mehr von Helen zu erfahren, hatte Nancy sicherlich die Leute vom Gesundheitsamt zitiert, mit denen sie gesprochen hatte: Es waren kleine, unwichtige Informationen, die Nancy zusammengetragen hatte, um eine alternde Verwandte für unzurechnungsfähig erklären zu lassen. Dann hatte sie wahrscheinlich zum Abschluss die Vorzüge jedes Altersheimes im Umkreis von zehn Meilen aufgezählt.
„Ihr werdet mich nicht in irgendein schickes Altersheim stecken, das Hunderte von Meilen von hier weg ist. Nicht, solange ich lebe. Und ihr kommt mir nicht mehr ins Haus. Jedenfalls nicht ohne Tessa. Die hat wenigstens noch ein Quentchen Verstand!“ Mit dieser wütenden Erklärung habe die Unterhaltung geendet,
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