Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)
Augen. Und mein Blick fleht ihn an: »Tu es nicht.« Ich habe keine Stimme mehr, keine Kraft für Bisse. Keine Tränen mehr. Nur meine Augen …
Jetzt ist er dran. Cucinotta tut, was er tun muss. Und ich bin stumm. Weil ich nicht weiß, was ich tun soll, weil ich mich nicht rühren kann. Weil ich tot bin. Domenico zieht sich nicht einmal die Hosen aus. Er lässt sie nur herunter. Der dunkle Stoff der Hosenbeine rollt sich um seine mageren Knöchel zusammen. Er stützt sich auf dem Tisch ab und bewegt sich vor und zurück. Vor und zurück. Er schlitzt mir den Bauch auf. Die Angst besiegt den Schmerz. Meine Hände werden kraftlos. Ich spüre, wie die Kraft aus meinen Fingerspitzen läuft und erkaltet.
Ich will hier weg. Bitte. Lasst mich gehen.
Aber es ist noch nicht zu Ende. Noch nicht. Jetzt ist Domenico Iannello dran. Der Dritte? Ja, er ist der Dritte. Er kommt an den Tisch. Dann Michele, sein Bruder, der Vierte.
Ich zähle.
Aber es ist immer noch nicht zu Ende. Cutrupi stürzt sich wieder auf mich. In mich.
Und ich?
Wo bin ich jetzt?
Er bleibt lange Zeit in mir. Ich halte es nicht mehr aus. Es gibt keinen genauen Punkt, an dem der Schmerz anfängt oder endet. Ich selbst bin der Schmerz. Jetzt schreie ich nicht mehr. Dazu fehlt mir die Kraft. Ich sehe alles verschwommen. Kann mich nicht bewegen. Meine Hände sind eiskalt. Die Schuhe schnüren meine Füße ein.
»Zieh dich an.«
»Wer, ich?« Meinen die wirklich mich?
»Anna, los, wir müssen gehen. Es ist spät. Zieh dir diesen verdammten Rock an und lass uns gehen.«
Sie nennen mich beim Namen.
Als ich vom Tisch herunterwill, geben meine Beine nach. Ich falle. Und knalle mit dem Kinn auf den Boden. Dabei beiße ich mir auf die Zunge. Kniend sammele ich das Schwarze, Grüne und Weiße auf. Ich ziehe mich an.
Ich verliere Blut.
Auf meinen Beinen ist Blut.
Schwarz. Grün. Weiß. Und jetzt noch Rot.
Ich starre dieses Rinnsal Blut an, das über meinen Schenkel läuft. Ist das von mir? Ist das mein Blut?
* * *
Sie sind schon alle draußen vor der Hütte. Die Mandarinenzweige haben sich nicht bewegt. Auch der Himmel nicht. Ich steige zu Domenico in den Wagen. Er bringt mich auf die Rückseite der Kirche, und ich mache mich sofort auf den Heimweg. Ganz leise öffne ich die Tür und bleibe kurz auf der Schwelle stehen, bevor ich eintrete. Zwischen Tür und Angel. Dann gehe ich hinein, ohne Licht zu machen. Alle schlafen. Im Bad wasche ich mich. Ich reibe mich kräftig ab, weil ich nach Mandarinen und Fäulnis stinke. Ich verliere kein Blut mehr. Anscheinend haben sie mich doch nicht verletzt, wie ich glaubte. Nein, es ist vorbei. Die rote Spur, die ich in der Hütte gesehen habe, ist auf meinem Schenkel getrocknet. Ich wasche sie ab. Zieh mir den Schlafanzug an und schlüpfe ins Bett.
Den Kopf im Kissen vergraben, versuche ich zu singen. Ich erinnere mich nicht mehr an den Refrain. Ich habe die Worte des Ave Maria vergessen. Habe sie verloren. Stumm bleibe ich liegen. Der Tag geht zu Ende. Mir ist heiß. Aber diese Hitze kommt von innen. Nur meine Hände werden nicht warm. Sie sind eiskalt.
Das war mein erstes Mal.
Ich habe geglaubt, ich sterbe.
Aber ich habe weitergelebt.
Das Dorf
Der erste Anruf kommt um 16.52 Uhr. Der zweite um 17.01. Der dritte um 17.09.
Ein Mann.
Immer die gleiche Stimme am Telefon: »Warum kommst du nicht zum Gefängnis von Palmi? Du hast einen hübschen Arsch. Und ich weiß, dass du gut im Ficken bist.«
Am anderen Ende der Leitung zieht jemand den Stecker heraus.
Die Stofftiere
H eute muss ich nicht zur Schule. Es ist Sonntag. Ostersonntag. Auf dem Regal neben dem Fernseher stehen die großen Ostereier aus Schokolade. Das grüne ist meins, das in der rosa Folie ist für meine Schwester. Ein Geschenk meines Vaters.
Ich bleibe bis Mittag im Bett. Ich habe keine Lust, aufzustehen und diesen Tag zu beginnen. Ich kann mich nicht daran erinnern, was gestern in dieser Hütte passiert ist. Als wäre mein Kopf blockiert. Ihre Gesichter. Der Tisch. Die Bäume. Alles ist irgendwie eingefroren. Ich spüre sie, sie sind in meinen Gedanken, aber ich kann sie nicht berühren, sie nicht wiederaufleben lassen. Sie lasten schwer auf mir, aber sie sprechen nicht zu mir. Eisfiguren drängen sich in meinen Kopf, und ich schaue dabei zu, versuche nur, sie nicht zu berühren. Und sie enden in einem entlegenen Winkel von mir selbst.
Meine Beine und mein Bauch tun mir weh. Diesen Schmerz fühle ich. Selbst im Bett. Und als ich aufstehe, kommt
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