Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)
gelben Bären. Ich nehme auch die Katze aus den Händen meiner Schwester und bringe alles in den Keller.
Dann dusche ich. Ich wasche mich ganz gründlich. Trockne sorgfältig die Kacheln. Meine Mutter sagt nichts. Ich habe einfach beim Mittagessen am Ostersonntag gefehlt. Aber das merkt hier niemand.
Ich hole mein Osterei aus unserem Zimmer und setze mich an den Tisch. Esse alles auf.
Meine Schwester bricht ihr Ei auf, und ich schenke ihr auch das Überraschungsgeschenk aus meinem Ei, eine wie ein Papagei geformte Brosche. Vielleicht verzeiht sie mir so mein Verhalten von heute Morgen.
Mein Vater verlässt das Haus, gleich nachdem er seinen Espresso getrunken hat. Meine Mutter wäscht ab. Ich bleibe am Tisch sitzen, das grüne Papier, in dem das Ei eingewickelt war, vor mir. Mit den Fingern kratze ich noch die Schokoladenkrümel heraus und esse sie. Das tue ich ganz sorgfältig, geduldig und aufmerksam.
»Mama, ich will heute Nachmittag in die Messe, darf ich?«
Ich stehe auf. Sie nickt. Ist schon beim Abwaschen.
Mein Mund ist noch verklebt von der ganzen Schokolade. Doch darunter spüre ich einen anderen Geschmack. Den ich nicht vertreiben kann.
Das Dorf
Seit drei Wochen verlässt Anna das Haus nicht mehr. Seit drei Wochen schläft sie nicht mehr. Ihre Schwester ist unruhig. Sie regt sich über jede Kleinigkeit schrecklich auf. Aurora weint. Ihr Mann schweigt.
Und Anna?
Anna beruhigt alle. Anna übernimmt die Verantwortung für ihre Familie. Und würde gern in Ordnung bringen, was zerbrochen ist.
Wenn ein Spiegel zerbricht, heißt es, das gibt sieben Jahre Pech. Aber dann geht es vorbei, und darauf folgt das achte Jahr. Aber was geschieht, wenn ein Leben zerbricht, das Leben einer Dreizehnjährigen? Was kann man tun? Wird je eine Zeit kommen, in der das Unglück vorüber ist?
»Wir müssen Geduld haben. Ihr werdet schon sehen, das geht vorbei«, sagt Anna zu ihrer Mutter. Und das Gleiche sagt sie ihrer Schwester. Doch sie glaubt nicht daran.
In der Nacht kommt wieder ein Anruf.
Der Pfarrer
I ch renne, das Kinn auf die Brust gesenkt und den Blick auf den Boden gerichtet. Bloß niemandem ins Gesicht sehen. Denn ich bin sicher, dass jeder die Gedanken sehen kann, die sich in meinem Kopf festgefroren haben. Den ganzen Tag kommen sie immer wieder hervor, und ich verjage sie in den hintersten Winkel meines Kopfes. Aber wenn ich aufschaue, werden alle wissen, wozu man mich gezwungen hat. Sie werden sehen, was in der Hütte geschehen ist. Sie werden mich nackt auf diesem Tisch sehen. Sie sehen mich. Sehen alles durch meine Augen. Deshalb renne ich. Mit über der Brust verschränkten Armen.
Ich habe meine Stofftiere in eine Tüte gestopft. Sie liegen jetzt im Keller. Sehen mich nicht mehr an, aber das hat nicht viel geholfen. Ich kann mein Geheimnis nicht für mich behalten. Was ist, wenn ich Domenico wieder begegne? Wenn die mich noch einmal in diese Hütte bringen? Ich muss um Hilfe bitten. Allein schaffe ich es nicht.
Als ich auf die Piazza komme, laufe ich langsamer, um nicht aufzufallen. Aber ich gehe entschlossen vorwärts. Auf das Portal zu.
Die gelb beleuchtete Kirche scheint vor dem dunklen Himmel zu schweben. Wie ein Raumschiff. Ich öffne die Tür: Stille und der samtige Geruch nach Weihrauch kommen mir entgegen. Geblendet von dem Gold und Weiß der Wände bleibe ich auf der Schwelle stehen. Ich hole tief Luft und flehe mein Herz an, nicht so zu rasen.
In den Bänken der ersten Reihe betet eine Gruppe Frauen den Rosenkranz.
»Ave Maria …« Sobald ich es höre, überfällt mich ein Brechreiz. Aber nichts kommt hoch, mein Mund bleibt ausgetrocknet. Mein Magen zieht sich bloß zusammen, und mir steigt der Schokoladengeschmack des Ostereis die Kehle hinauf.
Ich trete ein. Die Tür schlägt hinter mir zu. Eine alte Frau dreht sich um. Ich sehe sie nicht an. Ich suche den Pfarrer.
Da ist er.
»Don Antonio, ich muss mit Ihnen reden.«
»Guten Abend, Anna, wo warst du denn gestern? Man hat mir erzählt, du hättest den Chor verlassen. Und er war dir doch so wichtig.«
»Genau darüber möchte ich mit Ihnen reden, Don Antonio.«
Ich bin ganz ernst. Er schaut sich um.
»Heute ist Ostern, da bin ich sehr beschäftigt. Bald beginnt die Messe, und ich muss mich darauf vorbereiten. Diese Messe ist sehr wichtig«, erklärt er mir.
Die Kirche ist noch fast leer. Im Hauptschiff, einem rechteckigen Raum, kommen die geflüsterten Rosenkranzgebete wie undeutliches Raunen an. Aber in meinem Kopf, in dem
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