Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)
alles eingefroren ist, dröhnt es laut und bricht die Blockaden meiner Erinnerung auf.
Domenico. Unsere Stufe. Die Hütte. Die vier. Ihre Gesichter. Ich erinnere mich an die raue Haut, die Behaarung, den Bart. Ihre dunklen Augen. Den Tisch. An die Muskeln meiner Beine, die zuerst Widerstand leisten und dann nachgeben. An meine angespannten, gefesselten Beine. Meinen reglosen Körper und die Augen, die auf den Boden starren. Das Eis in meinem Kopf explodiert. Eissplitter bohren sich in meine Augen, werden zu Wasser, in meinen Mund, in meinen Magen. Ich krümme mich.
»Es ist aber wichtig, Don Antonio, Sie müssen mich anhören, wenn ich jetzt nicht rede, werde ich es nie mehr schaffen. Es muss jetzt sofort sein.«
Don Antonio setzt sich auf eine Bank. Ich setze mich auch. Lege beide Hände auf die Bank vor mir. Meine Stirn ist eiskalt und die Wangen nass.
»Willst du beichten, meine Tochter? Ist etwas geschehen?« Sein vom Römerkragen zusammengepresster Hals ruht schwer auf dem schwarzen Kragen seines Gewandes. Die zusammengequetschte Haut schiebt sich zu einem hässlichen Fleischlappen voller Bartstoppeln zusammen.
»Nein, Padre, ich möchte nicht beichten, das hier ist keine Beichte. Ich habe nichts getan. Das schwöre ich Ihnen bei Jesus Christus: Ich habe nichts getan, aber ich brauche Hilfe.«
»Rede, Anna, ich höre dir zu.« Und er beugt den Kopf zu mir herunter. Der Fleischlappen wird größer. Die Falte vertieft sich noch. Trotzdem rücke ich näher an ihn heran, damit ich leise sprechen kann.
»Padre, gestern Abend habe ich mich vom Chor weggeschlichen, um mich mit einem jungen Mann zu treffen. Er heißt Domenico Cucinotta. Wir haben uns hier draußen getroffen, und ich bin mit ihm in seinen Wagen eingestiegen. Ja, ich bin eingestiegen, aber ich wusste doch nicht, wohin er mich bringen wollte … in diese Hütte … draußen vor dem Dorf.«
Ich erzähle ihm alles. Flüsternd, mein Kopf ganz nahe an seinem. Ich spreche die Worte deutlich aus. Nenne Vor- und Nachnamen. Ich schäme mich, aber er ist doch Pfarrer, mit ihm kann ich offen reden, er wird mich nicht verurteilen.
Don Antonio schweigt. Er rührt sich nicht. Nickt nicht einmal dazu. Don Antonio wartet ab. Er hält den Kopf geneigt, sodass der Kragen seines Gewands die Haut am Hals zusammenschiebt.
Mein Mund ganz nah an seinem Ohr.
»Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe. Ich hätte in der Kirche bleiben sollen, hätte ihm niemals folgen dürfen. Ich weiß, das war dumm von mir, aber ich wusste doch nicht, ich wollte nicht, dass so etwas geschieht … dass die … und jetzt habe ich Angst, es meinem Vater zu erzählen und dass es wieder geschieht. Ich brauche Hilfe. Sie müssen die aufhalten. Vielleicht bestellen Sie die hierher … ich weiß auch nicht …«
»Langsam, Anna. Du kannst hier keinen Riesenskandal heraufbeschwören. Du weißt ja selbst nicht genau, was passiert ist. Du bist sehr aufgeregt. Beruhige dich erst einmal. Das sage ich vor allem zu deinem Besten. Du bist noch so jung.«
Don Antonio steht auf. Endlich entspannt sich sein Hals. Die Haut glättet sich wieder. Er hebt den Kopf, und während er mit mir spricht, sieht er mich an.
»Ich denke, du solltest mit Schwester Mimma sprechen. Über so etwas redet man am besten unter Frauen, vielleicht hast du ja auch missverstanden, was passiert ist. Vielleicht bist du ein bisschen durcheinander. Du darfst dich nicht zu sehr aufregen und musst aufpassen, dass du die Geschehnisse nicht übertreibst, wie Kinder das oft tun, denn du bist noch ein kleines Mädchen«, sagt er zu mir und fährt sich dabei mit dem Zeigefinger zwischen Hals und Römerkragen.
Schweigen.
Was redet er denn da? Ich starre auf seinen Finger, der die Haut glättet.
»Ich spreche dich von deinen Sünden frei …«
Was sagt er denn da?
In der Kirche hört man leises Raunen. Inzwischen sind die Gläubigen zu Dutzenden eingetroffen. Alle wegen der Ostermesse.
»Sprich drei Ave Maria und ein Mea Culpa und komm diese Woche jeden Nachmittag in die Kirche.«
»Was reden Sie denn da, Don Antonio?«
Er steht auf.
»Ich möchte … wieder glücklich sein«, sage ich und halte ihn am Arm fest. Er soll sich wieder hinsetzen, mir zuhören und mir helfen.
»Wenn du morgen hierherkommst, sorge ich dafür, dass du mit Schwester Mimma sprechen kannst. Jetzt bleib zum Gottesdienst.«
Er lässt mich stehen.
Ich drehe mich um.
Die Kirche hinter mir ist voller Menschen.
Meine Hände sind wie festgewachsen an
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