Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
Mal, als wir uns gesehen haben, hast du in einem Rollstuhl gesessen. Und jetzt stehst du hier, bereit, es mit der Welt aufzunehmen. Und ich stehe hier und drücke mich mal wieder vor meinen Aufgaben.“
„Oh, so nennt man das?“, nahm er nur zu gerne den Themenwechsel auf. „Sich drücken? Das scheint mir sehr angenehm zu sein.“
„Melde mich bitte nicht, ja? Die alte Mrs Romano in der Küche ist ein wahrer Drillsergeant. Ich hasse es, Ärger zu bekommen und Leute im Stich zu lassen.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mädchen wie du das tun würde.“
„Oh, glaub mir, ich kann eine Menge Ärger verursachen.“ Sie wedelte sich mit ihrer Schürze etwas Luft zu. „Ich musste einfach nur ein wenig Luft schnappen. Der Zigarettenrauch stört mich.“
Er störte ihn auch, und zwar so sehr, dass er nicht in der Lage war, zu rauchen wie alle anderen jungen Männer seines Alters. Ein weiteres Vermächtnis der Polio – die Intoleranz dem Rauchen gegenüber, die er seinen geschwächten Lungen zu verdanken hatte.
„Tanzt dein Bruder wirklich mit zwei Mädchen gleichzeitig?“, fragte sie und schaute durch das Fenster.
„Was soll ich sagen?“ George lächelte schief. „Er ist ein Mann vieler Talente.“
„Wie ist es mit dir?“, fragte sie. „Hast du auch Talente?“
„Ich halte sie im Verborgenen“, erwiderte er scherzhaft.
„Warum?“
„Bescheidenheit. Und du?“
„Ich bin in vielen Sachen gut. Zum Beispiel Kuchen schneiden.“
„Das ist bewundernswert.“
„Sahne schlagen“, fügte sie hinzu. „Im Sahneschlagen bin ich unschlagbar, wenn das Wortspiel erlaubt ist.“
„Das kann nicht jedes Mädchen von sich behaupten.“
Sie kicherte. Ihr Blick glitt zum Fenster. Ein weiterer Tanz begann, und die Darrow-Mädchen schienen Charles zu überreden, bei ihnen zu bleiben.
„Er ist sehr beliebt“, stellte Jane fest.
„Ach, das ist dir aufgefallen. Stört es dich?“
„Nicht wirklich“, sagte sie leichthin. „Ich bin nicht der eifersüchtige Typ. Außerdem muss ich mir keine Sorgen machen.Er ist bereits halb verliebt in mich.“
George war so überrascht, dass er lachen musste. „Wie bitte?“
„Ich bin nicht eitel, nur ehrlich. Charles hat sich schon halb in mich verliebt.“
Ihre Offenheit und Selbstsicherheit erstaunten George. Außerdem machten sie ihn ungerechtfertigterweise unsagbar eifersüchtig. „Und die andere Hälfte?“
„Wartet darauf, ob es auf Gegenseitigkeit beruht.“ Das Mondlicht betonte die Schönheit ihres Gesichts. Mit einem Mal sah sie nicht mehr aus wie eine einheimische Promenadenmischung, sondern so zart und bezaubernd wie eine Prinzessin.
„Worauf wartest du?“
Sie berührte mit dem Finger ihre Unterlippe. „Vielleicht warte ich auf jemand anderen.“
Er fragte sich, ob sie ihn nur aufzog – oder ob sie tatsächlich die gleiche elektrisierende Anziehungskraft verspürte wie er.
George hielt sich selber eine kräftige Standpauke. Sich mit diesem Mädchen einzulassen würde zu nichts als Katastrophen und Herzschmerz führen. Sie war ein Mädchen der Arbeiterklasse mit einer traumatisierten Mutter und einem Vater, der gerade so über die Runden kam. Sie besaß außer dem Hauptschulabschluss keine weitergehende Bildung. Nichts außer umwerfend gutem Aussehen und einem angeborenen Charme, der irgendeinen Mann einmal sehr glücklich machen würde. Nur nicht einen Mann wie George Bellamy.
Außerdem mochte Charles sie – auch wenn die Verliebtheit sicher abebben würde, sobald der Herbst nahte.
„Wenn du auf jemand anderen wartest, vergeudest du nur deine Zeit“, sagte George nun.
Sie kam ein paar Schritte auf ihn zu. „Bist du dir sicher? Bist du dir absolut, einhundertprozentig sicher?“
Die Zeit stand still. Sogar der leichte Abendwind schien sichzu legen, als wenn die Welt den Atem anhielte. Der Chor der Grillen verstummte. George hatte das verrückte Gefühl, dass sein Leben sich auf diesen einen Augenblick verdichtet hatte. Er stellte sich vor, wie es wohl wäre, die Arme um sie zu legen. Würde sie sich kräftig und fest oder weich und biegsam anfühlen? Er fragte sich, wie ihr Haar riechen, wie sich ihre Lippen anfühlen würden. Er balancierte im Dunklen am Rand einer Klippe und stand kurz davor, zu springen, auch wenn er keine Ahnung hatte, was unten auf ihn wartete.
Und es war ihm auch völlig egal. In diesem einen Moment war nichts wichtig außer dem Mädchen, das vor ihm stand. Leidenschaft und Sehnsucht schwirrten um
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