Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
ihn herum wie ein Nebel, der alles verdeckte, was sonst in seinem Leben zählte – klarer Menschenverstand, Status und Herkunft, Erziehung und die Erwartungen der Familie.
George hatte sich noch nie so gefühlt. Er hatte sich so fühlen wollen , hatte es ernsthaft versucht. Doch jetzt erkannte er erst, wie anders es mit Jane war. Das hier war keine schwache Zuneigung wie bei den von seinen Eltern initiierten Versuchen, ihn einer angemessenen jungen Dame zuzuführen. Es war ein roher, nicht zu leugnender Hunger, dem er nicht widerstehen und den er nicht bekämpfen konnte.
Er machte einen Schritt auf sie zu. Unter Aufbringung all seiner Willenskraft bewegte er sich quälend langsam. Wenn er sie einfach packen und mit der vollen Kraft seiner Leidenschaft küssen würde, könnte er sie verschrecken, und das wollte er nicht. Er wollte nichts anderes, als sie glücklich zu machen.
Jetzt stand er nur einen Herzschlag von ihr entfernt. Ihr Mund war halb geöffnet, erwartungsvoll. Die Luft zwischen ihnen knisterte, als er ihren Namen flüsterte. Er konnte nicht geradeaus denken. Er konnte überhaupt nicht denken.
„Erinnerst du dich noch daran, was du mir versprochen hast, als wir uns das letzte Mal gesehen haben?“, fragte Jane.
„Das ist zehn Jahre her.“
„ Ich weiß es noch. Du hast versprochen, mit mir zu tanzen.“
„Wenn ich das recht erinnere, hast du versprochen, dass ich mit dir tanze“, sagte er.
„Aha. Also erinnerst du dich noch.“
Er erinnerte sich an alles. An jede einzelne Sekunde. Daran, wie sie ihn immer herausgefordert und über ihn gelacht hatte. An die Kätzchen in der Scheune. Ans Schwimmen im Willow Lake. Wie er die Spuren in seinem Bein gefunden hatte. Ihr erster – und einziger – kindlicher Kuss. Alles.
„In dem Fall“, fuhr Jane fort, „schuldest du mir einen Tanz.“ Er war nicht gut darin, aber auf Perfektion kam es hier auch nicht an. In dem Augenblick, in dem er sie berührte, war alles andere egal. Was zählte, war die Hand, die er gegen ihre schlanke Taille drückte. Seine andere Hand, die ihre hielt. In diesem Moment erfuhr er ein so vollkommenes Glück, dass er grundlos leise auflachte. Er schaute Jane an und verlor sich in ihr …
„Ach, da bist du!“, rief Charles von der Tür zu ihnen hinüber. „Ich habe dich schon überall gesucht. Versuchst du etwa, mein Mädchen zu stehlen?“
Als hätte ihn ein Blitzschlag getroffen, kam George wieder zu Verstand und trat einen Schritt zurück. „Tsss, dein Mädchen stehlen. Der war gut, Charles!“
Er mied Janes Blick. Später würde er sich immer fragen – wenn er hingeschaut hätte, was hätte er in ihrem Gesicht gesehen? Bedauern? Sehnsucht, Verwirrung oder Verbitterung? Tatsache war, er wusste beinahe nichts über dieses Mädchen und hatte kein Recht, sich zu wünschen, es wäre anders.
„Ich gehe besser zurück an die Arbeit“, murmelte Jane und schlüpfte durch die Tür nach drinnen.
18. KAPITEL
B ittersüße Erinnerungen färbten die Tage des Sommers in jenem Jahr. Alle Bellamys wussten, dass es vermutlich die letzten Ferien waren, die sie gemeinsam hier verbrachten. Nächstes Jahr um diese Zeit wäre George ein Yale-Absolvent. Er würde sich auf seine große Reise machen, die Belohnung am Ende des Collegestudiums. Es war eine Tradition unter den jungen Männern guter Herkunft, nach dem Abschluss sechs Wochen lang die großen Hauptstädte und die ländlichen Gegenden der Länder Europas zu bereisen.
Insgeheim war George froh, dass sich der Sommer dem Ende näherte. Es war zu schmerzhaft, Jane Gordon jeden Tag zu sehen und zu wissen, dass Charles und sie eine heimliche Affäre hatten. Er musste sich zwingen, wegzuschauen. Doch Charles’ Begeisterung würde sicher zum Ende der Saison schwinden.
Endlich war die letzte Woche da, und die Qual neigte sich ihrem Ende. Wie jedes Jahr gab es eine Reihe Abschlussveranstaltungen im Camp, darunter sportliche Wettkämpfe, Feiern und Segelregatten, außerdem einen Liederabend am Ufer, bei dem sich alle um ein Lagerfeuer versammelten.
Die Bellamys machten einen letzten gemeinsamen Dämmertörn mit dem Segelboot. Der Wind war schwach, aber niemand beklagte sich. Heute Abend ging es nicht um Geschwindigkeit. Heute ging es darum, die Schönheit des Sees und der ihn umgebenden, bewaldeten Hügel in sich aufzunehmen, um ein kleines Stück vom Sommer in ihren Herzen mitzunehmen, das sie durch den langen Winter tragen würde.
„Manchmal frage ich mich, wie es wäre, an
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