Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
einziges Mal wollte Claire etwas anziehen, was jedem den Atem raubte, die Blicke der Menschen anzog, sie hinter vorgehaltener Hand flüstern ließ: Wer ist dieses Mädchen?
Doch von so einem Moment konnte sie nur träumen. Ihr Job war es, sich anzupassen, nicht herauszustechen. Sie betrachtete sich als Meisterin in dieser Kunst. Wenn sie sich das Mädchen in dem Spiegel so anschaute, sah sie die ultimative Durchschnittlichkeit – weder klein noch groß, dick noch dünn, schön noch hässlich. Sie war einfach … Durchschnitt. Wenn sie durch einen Raum voller Menschen ging, die später gebeten würden, sie zu beschreiben, würde sich niemand an sie erinnern.
George Bellamy hingegen hatte keinen Grund, nicht das Beste aus sich zu machen. Als er ins Wohnzimmer kam, wo sie auf ihn wartete, konnte sie einen bewundernden Pfiff nicht unterdrücken.
„Wow! Sieh sich einer diesen Mann an. Sie sehen umwerfend aus!“
Er drehte sich langsam im Kreis, die Handflächen nach außen gewandt, ein Lächeln auf dem Gesicht. „Ich fühle mich auch umwerfend“, sagte er. „Nun ja, so umwerfend, wie es in meinem Zustand möglich ist.“
„Lassen Sie es mich so ausdrücken“, widersprach sie ihm. „Wenn Richard Gere ganz viel Glück hat, wird er eines Tages vielleicht mal so aussehen wie Sie.“
„Oh, ein Filmstar? Das nenne ich mal ein Kompliment.“
„Der Anzug steht Ihnen fantastisch! Ist er von dem Schneider, von dem Sie mir erzählt haben, Henry Poole?“
„Das ist er tatsächlich. Sie haben ein gutes Auge.“
„Er sitzt wie angegossen.“ Und das tat er, bis hinunter zu dem leichten Knick im Hosenbein kurz über dem Aufschlag. Seine Schuhe waren aus glänzendem Leder, in dem sich das letzte Licht des Tages spiegelte. Jede Falte seines Hemdes war rasiermesserscharf, wie von einem unsichtbaren Diener gebügelt. Die Manschetten schauten genau einen Zentimeter hervor und wurden von silbernen Manschettenknöpfen in Form stilisierter Fische geschlossen. „Ein Geschenk von meinem Vater“, sagte George, als er ihren Blick bemerkte. „Er hat mir und meinem Bruder je ein gleiches Paar geschenkt. Ich muss mir langsam überlegen, was ich mit ihnen machen soll“, fügte er hinzu. „Ich habe sechs Enkelsöhne.“
„So viele?“
„Wir Bellamys sind eine fruchtbare Familie.“
Sie verließen das Haus, und Claire ging vor zu dem Golfwagen, den sie für die Dauer ihres Aufenthalts gemietet hatten, um sich auf dem Gelände frei bewegen zu können. „Ihre Kutsche wartet schon. Möchten Sie fahren?“
„Aber sicher.“ Da er sich heute ungewohnt rüstig fühlte, hatte er sich entschieden, seinen Stock im Haus zu lassen.
Sie fuhren um exakt acht Uhr vor dem Hauptpavillon vor. George bot Claire seinen Arm, und gemeinsam gingen sie hinein. Der Speisesaal sah am Abend einfach wundervoll aus. Die untergehende Sonne, die sich in der glatten Oberfläche des Sees spiegelte, tauchte alles in einen rosigen Schimmer. Die von Kerzen erleuchteten Tische waren mit feinstem Porzellan eingedeckt. Das silberne Besteck funkelte mit den Kristallgläsern um die Wette. Eine schlanke junge Frau saß am Steinwayflügel und spielte. Sie wurde von einem Mann an einer gedämpften Trompete und einem Perkussionisten begleitet.
Die meisten Gäste kamen in Paaren oder kleinen Gruppen. Es gab ein paar Familien mit zappeligen Kindern oder mürrischen Teenagern. Aber alles in allem herrschte eher die Atmosphäre eines romantischen Zufluchtsorts für Pärchen. Nicht, dass Claire jemals an so einem Ort gewesen wäre, aber sie hatteviele Bücher gelesen.
Auch wenn sie die Aufmerksamkeit scheute, konnte man das Gleiche nicht von George behaupten. Sie war nicht die Einzige, die seinen gut sitzenden Anzug bewunderte, sein schneeweißes Haar und seine aufrechte Haltung. Er zog alle Blicke auf sich.
Und unvermeidlich richtete sich die Aufmerksamkeit auch auf Claire. Sie spürte mehrere Dutzend Augenpaare auf sich. Zweifellos spekulierten die Leute über sie und diesen ungewöhnlich attraktiven älteren Gentleman. War sie seine Tochter oder seine Vorzeigefrau? Vielleicht war er auch ihr Sugar Daddy.
Sie versuchte, die Blicke und Vermutungen an sich abprallen zu lassen. Mit einem scheuen Lächeln winkte sie den Fotografen fort, der von den Gästen Fotos machte.
Claire hatte sich seit dem Juniorjahr an der Highschool nicht mehr freiwillig fotografieren lassen. Das Bild steckte jetzt in irgendeinem Jahrbuch; „Clarissa Tancredi“, eingequetscht zwischen
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