Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
ChiChi Tambliss und Ginny Thompkins. Das Mädchen auf dem Foto hatte runde Wangen, eine feste Zahnspange und lange, braune Haare. Der Blick in ihren Augen war trotz allem, was sie durchgemacht hatte, voller Hoffnung. Innerhalb weniger Wochen, nachdem das Bild gemacht worden war, hatte dieses Mädchen aufgehört zu existieren. Die langen Haare waren abgeschnitten und schwarz gefärbt worden. Die Zahnspange wurde mithilfe einer Pinzette auf der Damentoilette einer Raststätte am Jersey Turnpike entfernt. Und der Ausdruck der Hoffnung sollte nie wiederkehren.
Sie wurden zu einem Tisch nahe der zur Terrasse hinausführenden Glastüren geführt. Ein hervorragender Platz in einem hervorragenden Restaurant, wie ihr auffiel.
„Ich glaube, das ist der beste Tisch im Raum“, stellte sie fest. „Womit haben wir diese königliche Behandlung verdient?“
„Das muss an Ihrer überwältigenden Schönheit liegen.“ George blinzelte, als er merkte, dass sie ihm das nicht abkaufte.„Könnte aber auch das Trinkgeld in der Höhe des Empire State Buildings gewesen sein, das ich dem Ober gegeben habe.“
Sie hob ihr Wasserglas in seine Richtung. „Auf Sie, Mr George Bellamy, Globetrotter voller Geheimnisse. Danke, dass Sie mich auf diese Reise mitgenommen haben.“
„Danken Sie mir noch nicht. Den Sommer in einer rustikalen Hütte zu verbringen ist nicht nach jedermanns Geschmack. Ich hoffe, dass Sie vor Langeweile nicht ganz dumm im Kopf werden.“
„Das bezweifle ich sehr, George.“ Sie merkte, dass er sich im Speisesaal umschaute. „Suchen Sie jemanden?“
„Ich habe eine alte Freundin aus Collegetagen wiedergetroffen. Ich dachte, sie wäre heute Abend vielleicht hier.“
„Das freut mich für Sie“, erwiderte sie. „Ist das ein Zufall oder …“
„Ein absoluter Zufall. Ich hatte Millie bis heute Vormittag komplett vergessen.“
„Ich hoffe, dass ich sie auch einmal kennenlerne.“ Seine Freude über das Treffen ist so süß, dachte sie und schloss ihn noch mehr in ihr Herz. Sich mit Leuten zu treffen, eine Verbindung einzugehen, war zutiefst menschlich. Sogar der drohende Tod konnte diesem Wunsch nichts anhaben. Kein Wunder, dass selbst auferlegte Einsamkeit so schwer zu ertragen war.
Interessiert studierte sie die Speisekarte. „Die Hälfte der Gerichte kenne ich nicht, und von der anderen Hälfte weiß ich nicht, wie man sie ausspricht.“
„Soll ich für uns beide bestellen?“
„Ja, gerne. Aber denken Sie bitte daran, dass ich auf mein Gewicht achte.“
„Ich erinnere mich. Wie könnte ich das auch vergessen? Sie sind die erste Person in der Geschichte, die ein Teilchen aus der Sky River Bakery verschmäht hat.“
Als der Kellner kam, bestellte George für sie beide: einen Salat, der etwas beinhaltete, was sich Frisée nannte, und dermit frischen Blumen garniert war. Als Vorspeise gab es frische Forelle mit wildem Lauch und Pfifferlingen. Dazu bestellte er eine Flasche weißen Burgunder aus Frankreich.
Claire wünschte sich, mehr als nur einen oder zwei Schlucke nehmen zu können, aber das konnte sie sich nicht erlauben. Genauso wenig, wie sich den Genüssen der Speisekarte hinzugeben. Sie musste sich allzeit unter Kontrolle haben, und vom Wein ein bisschen berauscht zu werden war ein Risiko, das sie nicht eingehen konnte.
Trotz aller Einschränkungen war sie jedoch ganz verzaubert von dem wunderschönen Restaurant und seiner Lage direkt am See. Mit George hier zu sein gab ihr die Chance, ein anderes Leben zu leben, und sei es auch nur für eine kurze Weile. Es gab tatsächlich Menschen, die so ihre Zeit verbrachten, über einen fein gedeckten Tisch ihrem Ehemann oder Geliebten zulächelten, sich gepflegt unterhielten. Was für eine schöne Art, zu leben. Sie versuchte, ihre Sehnsucht danach nicht zu groß werden zu lassen.
George lehnte sich zurück und schaute sich verträumt um.
„Ist es so, wie Sie es erhofft hatten?“, fragte sie.
„Zum größten Teil ja. Ich hatte gehofft, dass es nicht bis zur Unkenntlichkeit verändert wurde, und das wurde es nicht. Es gab schon immer diesen Blick auf den See. Ich glaube allerdings, die Bühne stand damals in der anderen Ecke.“
„Gab es Livemusik?“, wollte sie wissen.
„Jeden Abend“, versicherte er. „Es gab auch Auftritte von allen möglichen Entertainern, Zauberern, Akrobaten, Comedians – was das Herz begehrt. Einige von ihnen waren sogar richtig gut. Da das Camp so nah an der Stadt lag, konnte man einige gute Künstler für
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