Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
Auftritte gewinnen.“
„Hatten Sie einen Lieblingskünstler?“
„Sicher. Es gab da diesen Zauberer namens Marvel, der seiner Assistentin zwei Mal am Abend den Kopf abgesägt hat. Ich erinnere mich noch daran, ganz perplex gewesen zu sein, als ich sie später unten am Steg eine Zigarette rauchen sah. Aneinem Abend habe ich hier auch Henny Youngman auf der Bühne gesehen. Haben Sie je von Henny Youngman gehört?“
„Tut mir leid, nein.“
„Er war ein Komiker, zu seiner Zeit sehr bekannt. Sogar die Everly Brothers haben hier gespielt. Und die Andrews Sisters – sie waren regelmäßige Gäste.“
Mit seinen Geschichten aus einer längst vergessenen Zeit entführte er sie an einen anderen Ort. Es hatte eine ganze Subkultur der reichen Familien in der Stadt gegeben, die sich jeden Sommer an die Seen im nördlichen Teil des Staates zurückzogen, und die Bellamys waren ein Teil davon gewesen.
Claire konnte sich das kaum vorstellen. Sie hatte noch nie etwas aus Tradition heraus gemacht. Ihre Kindheit hatte aus einer Reihe von Überlebenskämpfen bestanden, und am Ende hatte sie die finale Vorstellung gegeben und sich selber verschwinden lassen.
Einige Paare tanzten zu der sanften Klaviermusik. Als sie sie beobachtete, spürte Claire etwas an einem weichen und geheimen Ort in ihrem Inneren – eine Traurigkeit, ein Gefühl der Sinnlosigkeit. Sie hatte sich nie erlaubt, sich zu verlieben. Das konnte sie einfach nicht. Es war zu gefährlich. Sie würde niemals eine dauerhafte Beziehung haben können. Jeder, der ihr zu nahe kam, sah sich der gleichen Gefahr ausgesetzt wie sie. Oder schlimmer noch, er würde als Druckmittel gegen sie eingesetzt.
Oh, aber sie träumte! Wenn sie Menschen zusammen sah wie die Paare auf der Tanzfläche, umgeben von einer Liebe, die man beinahe mit den Händen greifen konnte, träumte sie davon, wie es wohl wäre, und konnte ihr Herz nicht davon abhalten, sich danach zu sehnen. Dann erinnerte sie sich wieder, wie es war, zur Flucht gezwungen zu werden und unterzutauchen. Die Erfahrung wünschte sie niemandem. Wenn sie versuchen sollte, das Jugendamt davon zu überzeugen, Vance Jordan als Pflegevater ein für alle Mal auszuschließen, würde sie damit ein nicht abschätzbares Risiko eingehen. Das Letzte, was sie dabei brauchen konnte, war,jemanden mit hineinzuziehen.
Todkranken Patienten professionelle, mitfühlende Hilfe angedeihen zu lassen war eine Berufung, die nur wenige Menschen verstehen konnten. Doch für Claire war es der perfekte Beruf. Sie liebte ihre Patienten, solange sie sich um sie kümmerte, und ihr Herz brach jedes Mal, wenn sie sie verlor. Aber sie hatte entdeckt, dass das Herz ein gesundes, kräftiges Organ war, das sich selber heilen konnte.
Sie spürte bereits, dass sie George sehr mögen würde. Er sah in seinem Anzug so gut aus, so stolz und dennoch unsicher angesichts der fürchterlichen Prognose. Er erinnerte sie ein wenig an einen nervösen Bräutigam. Sie hoffte, dass er Frieden und Klarheit finden würde und sich schließlich mit seinem Schicksal abfinden könnte.
Sie bestellten Nachtisch – er nahm eine Crème Brûlée mit Himbeeren, sie nahm nur die Himbeeren. Dazu bestellte er zwei kleine Gläser Eiswein von einem Weingut im westlichen New York, und sie erlaubte sich, einen Schluck zu nehmen. Es war ein intensiver, süßer Wein, gewonnen aus Trauben, die erst nach dem ersten Frost geerntet wurden. Der Geschmack war vollmundig und umfassend, wie nichts, was sie je zuvor probiert hatte. „Das ist wie Nektar“, sagte sie und schloss genussvoll die Augen. Als sie sie wieder öffnete, sah sie, dass George sie mit einem nachsichtigen Lächeln betrachtete.
„Was?“, fragte sie.
„Sie sind wirklich eine zauberhafte junge Lady“, sagte er. „Ross wird Sie sehr mögen.“
Ross mal wieder. Der Enkel. „Ich bin für Sie hier, George. Das wissen Sie.“ Sie stützte ihr Kinn auf die Hand und beobachtete die Paare auf der Tanzfläche.
Er trank seinen Eiswein aus. „Sie sind schon von mir gelangweilt. Das merke ich.“
„Unsinn! Ich lerne Sie doch gerade erst kennen“, widersprach sie.
„Es steht auf meiner Liste, wissen Sie“, sagte er.
„Was steht auf Ihrer Liste?“
„Tanzen. Ich habe nie gelernt, zu tanzen.“
„Das überrascht mich.“ Sie schaute ihn an. „Sie wirken auf mich wie die Art Mann, die genau weiß, wie man tanzt. Ich nahm an, das wäre eine gesellschaftliche Fähigkeit, wie das Binden einer Fliege, oder zu wissen, welcher
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