Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
einer rücksichtslosen Krankenschwester sein.“
Sie streckte ihre Hand aus und berührte seinen Arm. „Ich bin so froh, dass du wieder da bist, Ross! Ich möchte gerne hören, wie es da drüben war – aber erst, wenn du bereit bist, darüber zu sprechen.“
„Ja, ich bin noch nicht ganz wieder hier angekommen.“ Das Trauma seines Einsatzes war noch zu frisch, um mit irgendjemandem darüber zu sprechen – inklusive sich selbst –, das wusste er. Irgendwann würde er über seine Erfahrungen reden müssen, erzählen wollen, was er gesehen und getan hatte.
Aber nicht jetzt, wo alles noch so frisch war. Es war sehr, sehr seltsam, sich vorzustellen, dass er noch vor wenigen Stunden in Afghanistan gewesen war. Vor wenigen Tagen war er in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt gewesen, dessen Wunden an seinem Körper langsam verheilten. Er fühlte sich, als wäre er aus einer Welt herausgerissen und in eine andere verpflanzt worden. Sicher war er dankbar dafür, aber er hatte sich einfach noch nicht wieder richtig akklimatisiert.
Während der langen, zeitweise idyllischen Fahrt nach Upstate New York dachte er an die dringlicheren Themen, die vor ihm lagen. Er hatte eine wirklich verkorkste Familie – verkorkster, als er gedacht hatte. Kein Wunder, dass Granddad die Flucht ergriffen hatte. Vielleicht versuchte er, einen weniger verkorksten Zweig der Familie zu finden.
„Also, wenn du bereit bist, bin ich es auch“, sagte Natalie.
„Ich würde lieber hören, wie es dir so ergangen ist, Nat. Du sagst, deine Arbeit läuft gut?“
„Meine Arbeit ist super! Die Welt des Sportjournalismus ist genau mein Ding. Letztes Jahr hatte ich den großen Durchbruch – ein Artikel über einen aufstrebenden Baseballpitcher im New York Times Magazine. Mein Blog hat viele Fans, und derzeit arbeite ich an einem Buch. Oh, und hier ist etwas, das du bestimmt nicht gewusst hast: Dieses Jahr feiern du und ich unser Zwanzigjähriges.“ Sie drückte seinen Arm leicht. Esfühlte sich … ungewohnt an. Die Leute in seiner Einheit hatten einander nicht berührt.
„Was du nicht sagst.“ Er legte sein Handgelenk oben auf dem Lenkrad ab. „Ich habe nie nachgerechnet. Du meinst, wir haben uns vor zwanzig Jahren kennengelernt?“
„Ja. Und es war Hass auf den ersten Blick, erinnerst du dich? Du hast dich über meine Zahnspange lustig gemacht.“
„Und du über meine Frisur.“
„Es ist ein Wunder, dass wir fünf Minuten zusammen überlebt haben, ganz zu schweigen von zwanzig Jahren.“
Sie waren gezwungen gewesen, gemeinsam an einem Schulprojekt zu arbeiten. Sie stammten beide aus komplett unterschiedlichen Familien, aber das war nicht der Grund für ihre gegenseitige Abneigung. Ross war das jugendliche Pendant zu einem entgleisten Zug gewesen, ein Junge, der in tiefer Trauer um seinen Vater steckte. Er kam aus einer Familie, die Geld hatte und nicht machte – was ein kleiner, aber feiner Unterschied war.
Natalie hingegen war aufgrund eines Stipendiums an der Schule. Ihre Eltern waren Missionare, die in einem ostafrikanischen Fürstentum arbeiteten, in dem es alle paar Monate zu militärischen Aufständen kam.
Aus anfänglichen Frotzeleien hatten sie im Laufe der Zeit eine tiefe, echte Freundschaft aufgebaut. Ihre Verbindung entstand aus dem gemeinsamen Schmerz. Beide waren sie Kinder, die abgeschoben worden waren – Ross von seiner Mutter, die den Gedanken nicht ertrug, ihn alleine aufzuziehen, und Natalie von ihren Eltern, deren humanitäre Ideale keinen Platz für ihre Tochter ließen.
Reverend und Mrs Sweet glaubten, dass sie zu Höherem berufen waren, als nur Eltern eines talentierten, aber seltsamen Mädchens zu sein.
„Damit bist du offiziell mein ältester Freund“, erklärte sie.
„Du auch meiner. Also sind wir beide alt. Wann wirst du mich heiraten?“
„Wie wäre es mit nie?“, fragte sie. „Wäre das für dich in Ordnung?“
Es war ein alter Scherz zwischen ihnen. Sie hatten sich durch Verabredungen gekämpft und sich auf der Columbia University gegenseitig bedauert. Sie waren beide dort hingegangen – Natalie, um Journalismus zu studieren, Ross zum Luftfahrtstudium. An einem unüberlegten Abend, an dem sie sich zu viele Herrengedecke zu Gemüte geführt hatten, hatten sie ihre Jungfräulichkeit aneinander verloren – und danach festgestellt, dass sie als Liebespaar nicht zusammenpassten. Die besondere Chemie ihrer Freundschaft verwandelte sich einfach nicht in Leidenschaft, egal, wie sehr sie sich
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