Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
oder Pommes frites mehr gehabt, und es fühlte sich herrlich dekadent an.
Der Mond stieg auf und tauchte alles in einen bläulichen Schimmer. „Guck dir das an.“ Ross lehnte sich in seinem Sitz zurück. „Wunderschön. Clair de lune– bist du danach benannt worden?“
„Nein.“ Claire schüttelte unmerklich den Kopf. Sie war nach jemandem benannt worden, der seit fünfundzwanzig Jahren tot war, nach jemandem, dessen Identität sie nach ihrem Untertauchen angenommen hatte. Aber natürlich konnte sie ihm das nicht sagen.
„Wie ist deine Familie so?“, fragte er. „Du erzählst nie viel über dich. Wo wohnen deine Eltern? Was macht dein Vater?“
„Seine Familie im Stich lassen“, erwiderte sie trocken. „Nein, warte – das würde ja bedeuten, dass er lange genug da geblieben wäre, um meine Mom oder mich im Stich lassen zu können.“ Sofort bedauerte sie, was sie gesagt hatte, und senkte den Kopf. Die Frage hatte sie unvorbereitet getroffen. „Ichhabe nicht wirklich eine Familie.“
Normalerweise wurde sie nicht danach gefragt; dafür ließ sie nie jemanden nah genug an sich heran. „Meine Mutter starb, als ich noch jung war. Ich habe bei einer Reihe Pflegeeltern gelebt und bin seit der Highschool auf mich allein gestellt.“
„Verdammt!“ Seine Stimme klang weich. „Das ist hart, Claire! Ich hatte ja keine Ahnung.“
„Es geht mir gut.“ Sie hoffte, er würde nicht tiefer graben, aber auf der anderen Seite wollte ein Teil von ihr genau das. Sie wollte ihm alles über sich erzählen. Der ständige Kampf, über das, was wichtig war, schweigen zu müssen, zermürbte sie langsam. „Tut mir leid, aber ich rede nicht so gerne darüber“, sagte sie leise. „Ich hatte in meinem Leben nicht viele Gelegenheiten, etwas wie das hier zu unternehmen. Sommer am See, segeln und angeln … Es ist wie ein Traum.“
„Wie hast du denn dann deine Sommer verbracht?“, wollte er wissen.
„Ich habe viel ferngesehen. Mein gesamtes Wissen über Sommercamps habe ich aus Slasher-Filmen.“
„Kein Wunder, dass dir das hier besser gefällt!“
Er hatte ja keine Ahnung! Ihre Mutter war ein Einzelkind gewesen. Sie hatte ihr so gut wie nichts über ihre Eltern, Claires Großeltern, erzählt – außer, dass es sie nicht gab. Claire erinnerte sich daran, sie einmal danach gefragt zu haben, als in der dritten Klasse in der Schule ein Großelterntag veranstaltet wurde. Doch mehr als „Du hast keine Großeltern, Babygirl. Es gibt nur dich und mich gegen den Rest der Welt“, hatte sie nie von ihrer Mutter erfahren.
„Du erzählst aber auch nicht gerade viel von dir“, gab sie zurück, fest entschlossen, weitere Fragen in ihre Richtung abzuwenden.
„Natürlich tu ich das!“
„Lügner!“
„Frag mich irgendwas. Ich bin ein offenes Buch.“
„Okay. Als du ein Kind warst, was wolltest du da werden?“
Er dachte eine Minute nach und erinnerte sich an das Kind, das er gewesen war. „Alles“, gab er zu. „Ein Skirennfahrer, ein Rockstar, ein Feuerwehrmann, ein Formel 1-Fahrer, ein Spion und ein Raketentechniker.“ Er machte eine Pause, dann fügte er hinzu: „Ein Onkel. Ich erinnere mich, dass ich meine Onkel sehr gerne mochte und selber ein ganzes Dutzend Neffen und Nichten haben wollte. Das ist allerdings nicht so einfach, wenn man Einzelkind ist. Ich neigte dazu, mich von Dingen angezogen zu fühlen, die schwer oder unmöglich zu bekommen waren. Ich frage mich, was das wohl über mich aussagt.“
„Dass du große Träume hast, ist kein Verbrechen.“
„Als ich sechzehn war, schickte meine Mutter mich einmal zu H.E.L., dem Human Engineering Laboratory.“ Er lachte auf. „Ich bin sicher, die Ironie der Abkürzung ist den Menschen, die die Einrichtung leiteten, völlig entgangen. Aber für mich war es teilweise tatsächlich die reine Hölle.“
Sie runzelte die Stirn. „Das klingt fürchterlich.“
„Es war ein Programm, das Kindern helfen sollte, ihre Neigungen und Fähigkeiten zu entdecken. Sie stellten mit uns eine ganze Reihe von Tests an, weil sie der Meinung waren, wenn man weiß, worin man gut ist, ist man besser dafür gerüstet, sich der realen Welt zu stellen.“
„Haben die Tests ergeben, dass du ein guter Helikopterpilot bist?“
„Ich kann mich, ehrlich gesagt, nicht mehr daran erinnern.“ Er nahm einen Löffel von seiner Eiscreme.
Sie schwiegen ein paar Minuten und lauschten dem Quaken der Frösche, während sich am Himmel ein Stern nach dem nächsten zeigte. Es war
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