Sommer wie Winter
endlos. Ich habe sie in meiner Arbeit als die erweiterten zehn Gebote bezeichnet. Es sind einfach eine Menge Verhaltensregeln, über die eigentlich nie gesprochen wird. Aber trotzdem hat jedes kleine Kind sie schon verinnerlicht, bevor es in die Schule kommt! Man hat sich eben zu benehmen, in jeder Hinsicht. Ohne das Einhalten dieser ganzen Regeln gibt es kein reibungsloses Einfügen
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in die dörfliche und kirchliche Gemeinschaft. Auch keinen tadellosen Ruf.
Und das ist das einzig Wichtige hier! Das ist es, was zählt.
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Therapiegespräch im Jänner 1990
Dr. Z. und Alexander Sommer
Ob ich schon Bekanntschaft mit dem Tod gemacht hab? Das klingt so eigenartig: Bekanntschaft mit dem Tod! Was meinen Sie denn damit? Ob ich schon einmal einen Toten gesehen habe oder ob ich mich selber dem Tod nahe gefühlt hab?
Ja, Tote habe ich schon gesehen in meinem Leben.
Eine habe ich gesehen, das ist gar nicht so lange her, vor vier Jahren ist das gewesen. Ich habe im Wald, unterhalb von unserer Hütte, die Schöpf Maria gefunden, sie hat sich an einem Baum aufgehängt. Wieso weiß ich nicht. Es hat keinen Abschiedsbrief gegeben. Angeblich hat sie gar nicht schreiben können, sie ist geistig ein bisschen zurückgeblieben gewesen. Geredet haben die Leute viel. Nein, es ist kein schöner Anblick gewesen, was glauben Sie, ich bin auch sofort weggelaufen und habe ihren Bruder geholt. Auf seinem Hof hat sie gelebt und gearbeitet, besonders nett ist er aber nicht mit ihr gewesen.
Wie ich sechs gewesen bin, ist die Oma gestorben, die Mutter von der Mutter. Sie hat bei uns im Haus gelebt. Mich hat sie nicht mögen und kein einziges
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Wort mit mir geredet. Wenn sie mit der Mutter über mich geredet hat, hat sie nur so gesagt: der Angenommene. Zum Schluss ist sie nur noch im Bett gelegen und die Manu und ich haben sie in ihrem Zimmer oft besucht. Wir sind auf dem Bett gesessen und die Manu hat ihr selbst ausgedachte Geschichten erzählen dürfen. Das hat der Oma gefallen. Ich wollte auch unbedingt Geschichten erzählen, ich bin immer wie auf Nadeln gesessen, wenn die Manu so rumgestottert hat und ihr nichts Gescheites eingefallen ist. Mich hat sie aber nicht lassen.
Nach ihrem Tod hat man sie in der Stube aufgebahrt. Das ist die Tradition, die Toten behält man bis zu ihrer Beerdigung daheim. Uns Kinder hat man hineingeführt, damit wir noch ein Vaterunser für sie beten. Die Stube ist voller Blumen gewesen, die sind in Kübeln auf dem Boden gestanden, weil wir zu wenige Vasen gehabt haben. Sie haben so richtig gestunken, die Blumen. Die Mutter hat geweint und geweint und auch die Anna und die Martina. Ich habe der Oma ins Gesicht geschaut, es ist so grau gewesen und hat wie Wachs ausgeschaut. Traurig bin ich nicht gewesen. Angst habe ich auch keine gehabt, so wie die Manu, die ist vor lauter Angst vor der Toten aus der Stube gerannt. Irgendwie habe ich nichts gefühlt. Es ist mir normal vorgekommen, dass sie da tot liegt, sie ist ja schon so alt gewesen.
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Wie ich das zweite Mal einen toten Menschen gesehen hab, ist das nicht so normal gewesen, und für mich war das dann auch ziemlich schlimm. Das ist ein kleiner Bub gewesen, ein Kambodschanerbub, erst vier Jahre alt ist der gewesen. Er ist bei Hochwasser im Bach ertrunken. Die Familie ist 1976 aus Kambodscha geflüchtet und hat seit vier Jahren im Dorf gewohnt, bei unseren Nachbarn, beim Stern. Bevor sie ins Dorf gekommen sind, haben das einige verhindern wollen, irgendwer hat so ein Plakat geschrieben: Wir brauchen keine Schlitzaugen in Sölden! und hat das dem Stern auf die Haustür gepickt.
In Kambodscha ist ja Krieg gewesen seit 1975, wegen der Roten Khmer, die haben das Volk unterdrückt und ausgerottet. Mich hat das alles interessiert und ich habe später viel darüber gelesen. Es hat mich deswegen so interessiert, weil die Manu und ich viel mit der Ältesten gespielt haben. Wir sind auch zusammen in einer Klasse gewesen. Sie hat Li San geheißen und ist zwei Jahre älter als wir gewesen.
Der Stern ist ein großer Bauer, der sich geweigert hat, auf Gäste umzustellen. Er hat eisern die Milchwirtschaft weiter betrieben und geteufelt, dass wegen der Gäste das schöne Tal kaputt gemacht wird. Auf die Skilifte und großen Hotels hat er so geschimpft. Ja, jetzt, seit zwei oder drei Jahren gibt’s bei ihm auch Urlaub auf dem Bauernhof.
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Die Flüchtlingsfamilie hat der Stern aufgenommen, damit er halt billige Arbeitskräfte hat, das haben damals viele gesagt. Der
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