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Sommer wie Winter

Sommer wie Winter

Titel: Sommer wie Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith W. Taschler
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ist und mich zurückgelassen hat.
    Bis dahin habe ich geglaubt, sie ist gestorben, bei einem Autounfall. Ich habe sie mir immer tot in einem Sarg vorgestellt.

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Tiroler Tageszeitung
am 24. Mai 1973
Junge Frau spurlos verschwunden
Zweieinhalbjährigen Sohn alleine in der Wohnung zurückgelassen
    Innsbruck. Seit der Nacht von Montag auf Dienstag fehlt von der zweiundzwanzigjährigen Paulina S. jede Spur. Ein Nachbar alarmierte die Polizei, nachdem er das Weinen des zweieinhalbjährigen Buben, der in der Wohnung eingeschlossen war, gehört hatte. Das Kind wurde vorläufig im Landeskinderheim Axams untergebracht.
    Bekannte vermuten, dass die labile junge Frau ihren Traum von einer Auswanderung wahr gemacht hat. In der Wohnung wurde ein kurzer Abschiedsbrief gefunden und es fehlen alle Dokumente sowie der Reisepass, ein Koffer, Kleidungsstücke und andere private Dinge. Dennoch erbittet die Polizei um Hinweise aus der Bevölkerung. Paulina S. ist 1,70 groß, schlank, hat dunkle Haare und Augen.

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Therapiegespräch im Jänner 1990
Dr. B. und Martina Winter
    Ich fühlte mich eingeengt im Dorf. Ich möchte und könnte hier nicht leben. Die ganzen Zwänge! Wie soll ich das ausdrücken? Es gibt einfach so viele Regeln hier am Land, ja, ich nenne es Regeln. Ich habe einmal eine Seminararbeit darüber geschrieben, im zweiten Semester.
    An erster Stelle kommt natürlich der Gehorsam gegenüber den Eltern. Dagegenreden gab es einfach nicht, das hätte man sich nie getraut! An zweiter Stelle kommt dann der Glaube an Gott und an die Kirche. Ständig mussten wir beten und in die Kirche laufen! Ich habe die Messe gehasst! So was von langweilig! Der Alexander ist immer so ruhig zwischen uns gesessen. Einmal habe ich ihn gefragt, da war er noch in der Volksschule, ob er es in der Kirche nicht langweilig findet. Er hat gesagt, nein, weil er dann Zeit hat zum Träumen. Ich habe ihn gefragt, was er denn so träumt in der Kirche, und er hat gesagt, er träumt, dass er fliegen kann. Er breitet seine Arme aus und fliegt im Kirchenschiff herum und alle schauen zu ihm hoch und bewundern ihn, weil er der Einzige ist, der fliegen kann. Alle rufen sie Ah! und Oh! Da musste ich so lachen.
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An dritter Stelle kommt die Arbeit, ich meine, das Arbeitenkönnen, das Fleißigsein. Faulheit ist das Schlimmste, nicht nur für Erwachsene! Wir mussten als Kinder viel mitarbeiten, im Stall, beim Heuen, bei der Erdäpfelernte und mit den Gästen sowieso. Bei der Heuarbeit waren wir immer sehr neidisch, wenn wir andere Kinder gesehen haben, die ins Freibad geradelt sind. Wenn wir dann ab und zu am Abend die Erlaubnis bekommen haben, auch noch schnell schwimmen gehen zu dürfen, dann habe ich vorher getrunken, was das Zeug gehalten hat, und dort habe ich so oft reingepinkelt, wie es nur ging! Auch der Alexander und die Manu haben das gemacht, die Anna natürlich nicht.
    Ja, was für Regeln gibt es noch? Viele! In meiner Seminararbeit, da ging es um Herkunft, bin ich auf fast fünfzig gekommen. Alle werden mir jetzt nicht einfallen.
    Man ist gepflegt, kommt sauber daher. Die Kleidung muss praktisch und angemessen sein. Aber eitel oder mit seinem Äußeren aufmüpfig darf man auch nicht sein, auf gar keinen Fall! Ich erinnere mich noch an einen Vorfall in der vierten Volksschulklasse, da ist einmal ein Mädchen mit blau gefärbten Strähnen dahergekommen. Das Mädchen war keine vom Dorf, sondern ist aus einer zugezogenen Familie gekommen. Das gab ein Getuschel ab! Ein paar Tage später haben ein paar Burschen
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sie in der großen Pause festgehalten und die Mädchen haben ihr die Strähnen abgeschnitten. Nein, ich war nicht dabei, natürlich nicht! Ich habe sie getröstet.
    Man bringt den Mitmenschen Respekt entgegen und ist höflich mit ihnen, besonders die Kinder mit den Erwachsenen und Alten. Umgekehrt ist das nicht so heikel. Mit Geld geht man sparsam um, man wirft es nicht aus dem Fenster. Außerdem verhält man sich fröhlich und freundlich, grantige Menschen haben ja was zu verbergen. Man trinkt nicht zu viel Alkohol, nur gelegentlich beim Frühschoppen nach der Messe. Wer trinkt, ist ein Säufer! Man äußert sich nicht abfällig über die Heimat, das tun nur Nestbeschmutzer. Man hat nicht zu viele Wünsche, denn das ist unbescheiden. Man züchtigt und beschimpft seine Kinder nicht in der Öffentlichkeit, das machen nur Proleten, man spricht nicht über Sexualität, läuft nicht halb nackt herum, das tun nur Huren. Genug?
    Ja, die Liste ist

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