Sommer wie Winter
Hof ist ja groß und es hat viel Arbeit gegeben, und einen Knecht hat er sich nicht leisten können. Man hat den Mann, er hat Zhang Sen geheißen, den ganzen Tag rackern sehen und die Frau hat im Haus gearbeitet, sie hat der Bäuerin beim Putzen und Kochen geholfen und mit den Kindern.
Der Stern und seine Frau haben gesagt, dass sie etwas wirklich Christliches tun haben wollen und deswegen die Familie aufgenommen haben. Es sind fünf Leute gewesen, die Eltern und drei Kinder. Sie haben in zwei kleinen Zimmern unterm Dach gewohnt und mit den Sterns mitgegessen. Eine eigene Küche haben sie nicht gehabt und keine richtige Heizung in den Zimmern. Ab und zu haben sie ein Taschengeld gekriegt. Viele haben sich aufgeregt über den Stern, dass der so was nicht machen kann. Sklaverei ist ja schon abgeschafft worden, haben sie hinter seinem Rücken gemeckert, aber unternommen hat niemand was. Ein paar haben den Stern auch bewundert, weil sie sich auch gratis Arbeitskräfte gewünscht haben.
Der kleine Bub hat Sokun geheißen, und Li San hat meistens auf ihn aufpassen müssen. Er ist uns so auf die Nerven gegangen. Und eines Tages ist er verschwunden gewesen. Die Eltern haben stundenlang nach ihm gesucht und wir haben dann geholfen.
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Wir haben das ganze Dorf abgesucht und im Wald sind wir herumgelaufen und in jeden Stadel haben wir reingeschaut. Gegen Abend haben wir ihn gefunden, das heißt Li San hat ihn gefunden, sie hat ihn aus dem Bach gezogen.
Sie ist auf der einen Bachseite gestanden, allein, und ich bin auf der anderen Bachseite gestanden, zusammen mit der Mutter, sie hat Kesor geheißen. Wir haben gar nicht so auf den Bach geschaut, sondern eher in den Wald hinein, und wir haben immer seinen Namen gerufen. Auf einmal sagt die Li San: Da ist er! Ich schau zu ihr rüber und sehe, wie sie mit der rechten Hand ins Wasser fährt und Sokun am Kopf herauszieht. Ich habe gedacht, mein Herz bleibt stehen! Sie hat ihn seelenruhig aus dem Wasser gezogen und ihn auf beiden Armen dann zum Hof getragen, fast einen Kilometer weit. Ohne etwas zu sagen und ohne zu weinen oder zu schreien, nur ganz still. Sie ist mir da so fremd vorgekommen und so – so abgebrüht irgendwie. Aber mir ist dann eingefallen, dass sie in ihrer Heimat viele tote Menschen gesehen hat, wie sie mit ihrer Familie zur thailändischen Grenze geflüchtet ist.
Ich bin auf der anderen Bachseite gegangen, neben Li Sans Mutter. Die Mutter hat geschrien wie am Spieß und sich die Haare gerauft. Vor dem Hof kommt uns Zhang Sen entgegen, und wie er seine Tochter mit dem blauen Sokun im Arm sieht, geht
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er zu dem Traktor, der da steht, und drischt mit seiner Stirn wie wild ein paar Mal gegen den Anhänger. Er war ganz blutig im Gesicht. Er hat der Li San den Buben abgenommen, ihn fest an sich gedrückt und ins Haus getragen.
Der Sokun hat nicht am Friedhof begraben werden dürfen, weil er nicht getauft war. Tagelang haben sie hin und her überlegt, was sie mit der kleinen Leiche machen sollen, die Familie Stern und der Pfarrer und andere. Der Pfarrer wollte ihn auf dem Friedhof begraben, aber der Pfarrgemeinderat hat dagegen gestimmt. Er ist dann unter einem großen Baum begraben worden, auf einer Wiese vom Stern.
Die Familie ist kurze Zeit darauf weggezogen, nach Wien, da haben Verwandte von ihnen gelebt. Ich habe die Li San nicht mehr gesehen.
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Therapiegespräch im Jänner 1990
Dr. Z. und Alexander Sommer
Ich habe den Zeitungsartikel nicht mehr aus meinem Kopf bekommen. Auswendig habe ich ihn können. Vor allem der Satz »Bekannte vermuten, dass die labile junge Frau ihren Traum von einer Auswanderung wahrgemacht hat« ist in mir abgelaufen wie so eine hängengebliebene Schallplatte.
Sie ist ausgewandert, ohne mich mitzunehmen! Ich habe ständig daran denken müssen. Das hat gehämmert in mir, nicht einmal oder zweimal in der Woche, nein, jeden Tag habe ich daran gedacht, jede Stunde. Vorgestellt habe ich sie mir in Neuseeland, in einem schönen weißen Haus am Strand, eines mit einer Holzterrasse. Dass sie Künstlerin ist und Bilder malt und Tonfiguren knetet. Wenn jemand labil ist, kann er nur als Künstler arbeiten, habe ich gedacht. Ich habe sie so gehasst, eine Zeit lang. Wieso ich sie mir immer in Neuseeland vorgestellt habe, weiß ich nicht mehr, vielleicht nur deswegen, weil das so weit weg ist.
Aber dann bin ich einfach froh gewesen, dass meine richtige Mutter nicht bei einem Autounfall gestorben ist, sondern dass sie lebt. Ich habe mir
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