Sommer wie Winter
immer wieder gesagt, besser eine lebendige Mutter
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als eine tote, auch wenn sie dich verlassen hat. Sie hat sicher ihre Gründe gehabt.
Alles Mögliche habe ich mir ausgedacht! Dass ich im Krankenhaus gewesen bin und ein Arzt zu ihr gesagt hat: Ihr Sohn ist leider gestorben, obwohl es nicht die Wahrheit gewesen ist, er wollte mich nur für medizinische Experimente behalten, und dann ist sie eben mit gebrochenem Herzen nach Neuseeland ausgewandert. Später hat mich der Arzt nicht mehr gebraucht und mich ins Kinderheim gebracht.
Ich habe Pläne geschmiedet, dass ich sie in Neuseeland besuchen werde. Dabei habe ich mir vorgestellt, wie schön unser Wiedersehen sein wird. Ich habe sie mir zart vorgestellt, schlank, mit so einem weichen, freundlichen Gesicht und langen dunklen Haaren. Dass sie nie gestresst und genervt ist, dass sie eine leise, sanfte Stimme hat, dass ihre Bewegungen ruhig sind, dass sie eben so ganz anders ist als – als die Eltern. Ich habe mir vorgestellt, dass sie mich an sich drückt, ganz lang, und dass ihr dabei Tränen über die Wangen laufen, nicht dass sie laut weint, so was finde ich peinlich, nur dass ihr Tränen über die Wangen laufen.
Dann gehen wir in ihr Haus und sie macht eine Führung für mich. Das Haus ist so hell und sauber, fast alle Möbel sind weiß und die Räume sind sehr groß und hoch, nicht wie zu Hause, wo alle Räume so niedrig und dann noch mit dunklem Holz
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getäfelt sind, dass es immer finster ist. Die Wände und Decken sind einfach weiß gestrichen, Holztäfelungen gibt’s keine.
Dann sitzen wir auf der Terrasse und trinken Tee und schauen aufs Meer hinaus.
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Therapiegespräch im Jänner 1990
Dr. B. und Anna Winter
Ja, was soll überhaupt das ganze Gequatsche über unsere Kindheit? Soll uns das helfen?
Unsere Kindheit ist nicht schlimm gewesen, auch nicht die vom Alexander. Aber Sie fragen auch speziell nur nach solchen Sachen, dass man sich nachher selber sagt: Um Gottes willen, was habe ich für eine schlimme Kindheit gehabt! Aber so stimmt das eben nicht. Ja, so ist eben diese Zeit gewesen! Doch, das kann man sagen, dass die Zeit so gewesen ist.
Den anderen im Dorf ist es auch nicht besser gegangen, manchen vielleicht sogar schlechter. Ja, von einer Freundin weiß ich, dass sie und ihre Geschwister ein paar mit einem Gürtel auf den nackten Hintern bekommen haben, wenn sie bei der Arbeit nicht gespurt haben. Das hat ordentlich rote Striemen abgegeben, manchmal auch blutige. Das hat’s bei uns nie gegeben.
Ja, was wollen Sie eigentlich herausfinden? Dass unsere Eltern Monster sind? Das sind sie nicht!
Ich finde, jede Kindheit hat schöne und schlimme Momente, es gibt gar keine Kindheit, die nur schlimm ist oder nur schön.
Ich will heute wirklich nicht reden, irgendwie zerredet man alles. Ich gehe jetzt!
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Therapiegespräch im Jänner 1990
Dr. Z. und Alexander Sommer
Dem Tod nah gefühlt habe ich mich einmal auf der Alm, in meinem letzten Sommer oben. Nachher hat der Vater den Almbetrieb auf Jungvieh reduziert, vielleicht auch ein bisschen deswegen.
Der Matthias ist krank gewesen, und deswegen ist eine Woche lang die Manu zu mir raufgekommen. Eigentlich wollten sie die Anna oder die Martina schicken, aber die Manu hat gleich gesagt, dass sie raufgehen will. Der Mutter ist es nicht so recht gewesen, weil wir erst zwölf waren, aber der Vater hat gesagt, die schaffen das schon.
Weil die Mutter gerade Speckknödel gemacht hat, ganz viele, zum Einfrieren, hat sie der Manu fünfzig Speckknödel mitgegeben. Sie hat gesagt, kocht euch jeden Tag zehn Knödel, für jeden fünf, und dann kommts fünf Tage aus und dann wird ja wohl der Matthias wiederkommen. Die Knödel sind uns schon am zweiten Tag so zum Hals rausgehängt. Wir haben uns eine Zielscheibe gebastelt und mit den Knödeln drauf geschossen, und ein paar haben wir einem Kalbl verfüttert, aber dem haben sie auch nicht so geschmeckt. Wir haben uns fast jeden Tag Spiegeleier mit Speck gemacht, da bin
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ich Profi gewesen, das hat mir der Matthias beigebracht, oder die Manu hat Nudeln gemacht. Weil uns dann die Eier ausgegangen sind, sind wir zur Nachbarsalm rübergeschlichen und haben dort die Eier eingesammelt, der Mutschlechner hat Hühner gehabt bei der Hütte.
Wir haben die ganze Woche einen Mordsspaß gehabt. Wir haben Pfarrer und Ministrant gespielt und eine Messe gelesen für unsere toten Kühe, die hat der Vater immer im Wald unter der Hütte vergraben. Erst seit ein paar
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