Sommer wie Winter
Jahren kommt er nicht mehr, ich weiß nicht wieso, vielleicht ist er gestorben. Er ist schon alt gewesen und – ja, irgendwie würde ich gern wissen, ob er noch lebt und wie’s ihm geht.
Er hat Koschuth geheißen, Karl Koschuth, aus Berlin ist er gewesen. So lang ich mich erinnern kann, ist der gekommen, und immer allein. Im September ist er wandern gegangen und hat Pilze
[50]
gesucht und im Februar ist er Ski gefahren, aber nicht besonders gut. Mich hat er gern gehabt, von Anfang an, und er hat mir Geschenke mitgebracht, nur mir, meinen Geschwistern nicht. Im Winter hat er immer zu den Eltern gesagt, er braucht mich als Begleiter auf den Pisten. Ich habe wegen ihm das Skifahren gelernt, er hat’s mir beigebracht. Er hat manchmal mit den Eltern über mich geredet. Einmal habe ich gehört, wie er zu ihnen gesagt hat, sie sollen mich endlich adoptieren, damit diese Namensgeschichte ein Ende hat. Er hat gesagt, diese leidige Namensgeschichte, das weiß ich noch. Eine Zeit lang ist »leidig« dann mein Lieblingswort gewesen.
Einmal hat er mir Fanfare mitgenommen. Kennen Sie die? Das sind so – so kurze, runde Waffelrollen, mit Nougatcreme gefüllt. Ich habe so was noch nie vorher gegessen gehabt. Ich bin also hinten im Heustadel gesessen, damit mich niemand findet und ich nicht teilen muss. Die sind so gut gewesen, ich habe gedacht, ich bin im Himmel! Ich habe jede ganz langsam gegessen.
[51]
Therapiegespräch im Jänner 1990
Dr. Z. und Alexander Sommer
Ja, die Mutter ist später einmal draufgekommen, wer das Geld gestohlen hat. Nein, sage ich nicht, es ist jetzt auch egal.
Sie hat sich bei mir nicht entschuldigt, das nicht, aber sie ist netter zu mir gewesen seitdem. Ich habe schon gemerkt, dass es ihr leid getan hat und dass ihr das Ganze doch zu blöd war. Da bin ich so ungefähr dreizehn oder vierzehn gewesen.
Sie ist dann einmal am Abend zu mir ins Zimmer gekommen und hat sich an mein Bett gesetzt. Das hat sie sonst nie getan! Sie hat mich sogar gestreichelt, die Haare. Ich bin das gar nicht gewohnt gewesen, aber ich weiß noch, wie gut ich mich gefühlt habe. Sie hat gefragt, ob ich mir was Besonderes zum Geburtstag wünsche. Ich habe gewusst, die Gelegenheit kommt nie wieder, ich muss mich jetzt einfach trauen! Da habe ich sie nach meiner richtigen Mutter gefragt, wie sie ausgeschaut hat und woran sie gestorben ist.
Zuerst hat die Mutter lang nichts gesagt. Dann ist sie aufgestanden und aus dem Zimmer gegangen. Ich habe gedacht, dass sie auf mich wütend ist. Sie haben nie erlaubt, dass ich nach meiner Herkunft
[52]
frage. Ich habe nur gewusst, dass sie mich als Pflegekind aufgenommen haben, wie ich fast drei gewesen bin, weil der Vater neben den drei Mädels einen Buben wollte. Der Andreas ist dann geboren worden, da bin ich acht gewesen. Von da an bin ich Luft für den Vater gewesen. Ich kann mich noch genau erinnern, wie die Mutter vom Krankenhaus heimgekommen ist. Der Vater hat das Baby ins Haus getragen und der Anna, der Martina und der Manu gezeigt. Ich habe mich unter dem Bett versteckt, weil ich gedacht habe, sie schicken mich weg. Jetzt ist ja der echte Sohn dagewesen.
Die Mutter ist aber wieder an mein Bett gekommen. Sie hat mir ein kleines Bild in die Hand gedrückt. Es ist so aus einer Zeitung ausgeschnitten gewesen, und das Gesicht von einer jungen Frau mit dunklen Haaren war drauf. Ich habe sofort gewusst, das Bild habe ich schon mal gesehen. Mir ist aber nicht eingefallen, wo. Das ist deine richtige Mutter, hat sie gesagt, ein anderes Bild haben wir nicht. Ich habe gefragt, wieso es aus der Zeitung ist, aber sie hat den Kopf geschüttelt und gesagt, dass sie es nicht weiß. Man hat es ihr am Jugendamt gegeben. Sie hat mir das Bild geschenkt.
In der Nacht bin ich aufgewacht und mir ist blitzartig eingefallen, wo ich das Bild gesehen habe: in der Kommode im Schlafzimmer der Eltern, unter den alten Fotos und den Tagebüchern. Nur ist da
[53]
das Foto zusammen mit einem Artikel gewesen. Ich habe sofort wissen wollen, ob ich recht hab. Mit meiner Taschenlampe bin ich ins Elternschlafzimmer geschlichen und habe so leise wie möglich die Schublade aufgemacht. Den Zeitungsartikel habe ich schnell gefunden, er ist ganz oben gelegen. Und es ist wirklich das Bild weggeschnitten gewesen.
Ich habe den Artikel mitgenommen in mein Zimmer und immer wieder gelesen. Ich habe jetzt gewusst, dass meine Mutter Paulina geheißen hat und dass sie einfach verschwunden ist. Dass sie wahrscheinlich ausgewandert
Weitere Kostenlose Bücher