Sommer wie Winter
hat, bin ich vor Angst fast gestorben.
Sie hat mich in eine kleine Holzhütte gesperrt. In der ist es so dunkel gewesen, es hat kein Fenster gegeben. Da bin ich dann am Boden gehockt und habe nur gefroren, vor lauter Kälte habe ich gebibbert. Und der Hunger und der Durst sind dazugekommen. Aber am schlimmsten ist die Angst gewesen, dass die Hexe zurückkommt und mich auffrisst. Ich habe alles probiert, damit ich aus der Hütte komme, aber die Tür ist von außen fest verriegelt gewesen.
Ganz lang bin ich in der Hütte gesessen, und die Kälte und den Durst und vor allem die Angst habe ich fast nicht mehr ausgehalten. Und auf einmal ist meine richtige Mutter gekommen, ich habe sofort gewusst, dass es meine richtige Mutter ist, ich habe es einfach gespürt. Sie hat so schön ausgeschaut und sie hat sich neben mich gesetzt und mich gestreichelt und zu mir gesagt: Mein kleiner Liebling. Ich habe gewusst, sie wird mich beschützen, wenn die Hexe noch mal kommt.
Und dann ist wirklich die Hexe noch einmal gekommen und meine Mutter ist auf sie zugegangen, um sie wegzujagen. Ich bin in die hinterste Ecke von der Hütte gerutscht, bis ich hinten angestanden bin.
Die Hexe legt ihre grausigen Hände um den Hals meiner Mutter und fängt an sie zu würgen, dabei
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lacht sie wieder laut und wild. In dem Moment bin ich jedes Mal aufgewacht und habe schwer Luft gekriegt, weil es in der Brust so eng gewesen ist.
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Therapiegespräch im Jänner 1990
Dr. B. und Martina Winter (21 Jahre)
Ich heiße Martina und bin einundzwanzig Jahre alt. Ich lebe seit drei Jahren in Innsbruck und studiere dort. Was ich studiere? Psychologie und Pädagogik.
Nach dem Anruf der Gendarmerie bin ich sofort mit der Anna in die Klinik gefahren.
Mir tut am meisten der Alexander leid! Ich wollte ihn an mich drücken und mit ihm reden, aber er lässt uns nicht an sich heran. Keinen! Er muss jetzt aber viel reden! Er hat nie viel geredet, er ist immer still gewesen und – anders. Dem Vater war er in den letzten Jahren zu ruhig, er hat ihn deswegen oft provoziert.
Bei uns in der Familie ist nie über etwas geredet worden, alles hat man totgeschwiegen, und am wenigsten hat man über den Alexander gesprochen oder mit ihm. Dabei wäre das sehr notwendig gewesen, für alle! Allein schon die Namen! Er – Sommer, wir – Winter. Wie ein schlechter Witz. Das war schlimm für ihn in der Schule! Die vielen Fragen der Lehrer, die nicht aus dem Dorf gekommen sind, und überhaupt die Gäste, die sind auch immer darauf herumgeritten! Gehänselt haben ihn die Kinder viel, ihn und die Manu auch. Waren ja beide in einer Klasse.
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Er muss sich jetzt alles von der Seele reden, das darf sich nicht aufstauen in ihm! Obwohl – angestaut hat sich da ja schon genug, wie wir jetzt erfahren haben.
Wir haben ja gar nichts davon gewusst, was er in seiner Freizeit gemacht hat und warum er manchmal weggefahren ist. Ja, wenn er in Innsbruck war, hat er manchmal bei mir übernachtet. Aber was er tagsüber in der Stadt gemacht hat, das hat er mir nie erzählt. Ich habe gedacht, er sucht Arbeit oder ein Zimmer. Er wollte ja unbedingt so schnell wie möglich von daheim weg! So wie ich. Ich habe es auch im Dorf nicht ausgehalten.
Das Ganze muss ja schrecklich für ihn sein. Er tut mir unendlich leid.
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Therapiegespräch im Jänner 1990
Dr. Z. und Alexander Sommer
Ja, da ist was passiert, deshalb das mit dem Regenwurm. Da war ich fast elf.
Einem Gast ist Geld weggekommen, und meine Eltern haben sofort mich verdächtigt, dass ich es gestohlen hab. Aber ich bin’s nicht gewesen und sie haben mich mehr als eine Stunde wieder und wieder gefragt, ein regelrechtes Verhör ist das gewesen. Auch beschimpft haben sie mich und vor dem Gast so – so bloßgestellt. Doch, da habe ich sie schon ein bisschen gehasst in dem Moment.
Es ist eine Frau gewesen, der Gast, meine ich. Eine sehr dicke, ältere Frau, eine Deutsche, woher sie genau gekommen ist, weiß ich nicht mehr. »Fette Kuh«, haben wir sie insgeheim genannt, das weiß ich noch, sie hat das Essen so schnell runtergeschlungen, das ist unglaublich gewesen! Und immer hat sie drei oder vier Nachspeisen nach dem Abendessen bestellt und auch komplett aufgegessen.
Allein ist sie dagewesen. Sie hat ziemlich lang bei uns Urlaub gemacht, so drei oder vier Wochen lang. Nicht im Winter, sondern im Sommer. Sie ist jeden Vormittag ein bisschen wandern gegangen, wenn man das überhaupt wandern nennen kann,
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und am Nachmittag hat
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