Sommerfalle
Schlösser waren simpler aufzubekommen, als sie gedacht hatte. Später wurde es eine Angewohnheit von ihr, zu probieren, was sie alles knacken konnte.
Rebecca kämpfte mit der Mechanik. Diese Handschellen waren nicht so dankbar wie der Türknauf eines Badezimmers, aber ihr blieb ja gar nichts anderes übrig, als es weiter zu versuchen.
Plötzlich hörte sie ein dumpfes Geräusch. Ein Motor. Ein Wagen näherte sich, und ihr Herz klopfte immer heftiger, je lauter es wurde. Retter oder Folterer?
Das Adrenalin schärfte all ihre Sinne. Letztlich waren alle Schlösser ähnlich. Sie versuchte, sich das Innere des winzigen Schlosses deutlich vorzustellen und sah jeden Millimeter der Metallteile vor ihrem geistigen Auge. Sie zwang sich dazu, tief zu atmen. Ihr Puls beruhigte sich. Das Auto war jetzt sehr nah, sehr laut. Dann rumpelte etwas so heftig, dass das Bett erzitterte. Einen Moment lang wollte sie aufgeben. Sie wusste, dass in dem Auto kein Polizist, nicht ihr Vater und auch kein Freund saß, der ihr zu Hilfe kam.
Der Motor lief noch, aber sie hörte keine Autotür zuschlagen.
Sie konzentrierte sich so sehr sie konnte, aber dieses Schloss blieb stur.
Edward saß bei laufendem Motor im Wagen.
Tränen liefen über sein Gesicht.
Und jetzt? Was sollte er tun? Er war praktisch ein erwachsener Mann, betrieb recht erfolgreich seine Geschäfte und verdiente damit jede Menge. Und er hasste es, wenn er sich so benahm. So emotional und wie ein Baby. Was für eine Heulsuse er doch war. Aber sein Leben war ja auch die Hölle gewesen. Die einzigen glücklichen Erinnerungen stammten aus der Zeit, als sein Vater noch gelebt hatte.
Dessen Tod war ein furchtbarer Unfall gewesen. Edward ging damals in die zweite Klasse und war richtig gut in der Schule. Er war zwar ein Einzelkind, hatte aber zwei beste Freunde. Gerade war er Wölfling bei den Pfadfindern geworden, und sein Vater hatte sie auf ihrer ersten Fahrt begleitet. Sie kamen von dem Wochenende in den Wäldern zurück und setzten noch einen anderen Jungen zu Hause ab. Edwards Vater trug ihm den Schlafsack zum Haus und ging dann zurück zum Auto, dessen Motor er hatte laufen lassen, als Edward, der währenddessen auf dem Fahrersitz gespielt hatte, die Automatik auf »Drive« umschaltete. Der Wagen machte einen Sprung in dem Moment, als Edwards Vater die Einfahrt überquerte. Die Augen des Vaters trafen die des Sohnes mit einem fassungslosen Ausdruck. Dies war der letzte Blick, der Edward von seinem Vater in Erinnerung blieb. Seit damals hatte er nicht mehr glücklich sein können.
Jetzt saß Edward in dem laufenden Wagen und träumte vor sich hin. Das tat er oft: sich Szenen ausdenken, die ihn ruhiger und zufriedener werden ließen. Er konnte längere Zeit so vor sich hin denken und darüber seinen Gesprächspartner, den Straßenverkehr, das Fernsehen, die Arbeit oder Schule völlig vergessen. In diesen Träumen tauchten immer sein Vater und immer Rebecca auf.
Rebecca.
Was sie wohl gerade da unten machte?
Es gelang ihr. Das war unglaublich. Das Schloss war offen, vorsichtig zog sie ihr verletztes Handgelenk heraus. Es schmerzte und blutete heftiger, als ihr lieb war. Rebecca wollte den Henkel des Eimers weglegen, behielt ihn dann aber doch bei sich. Sie könnte ihn als Waffe benutzen, dachte sie, oder vielleicht brauchte sie ihn noch mal als Werkzeug. Jetzt aber nichts wie herunter von dem Bett und raus ins Freie.
Sie suchte den kleinen Raum nach Ausgängen ab. Von allen vier Seiten des Bettes spähte sie herunter. Nichts.
Draußen lief immer noch der Motor des Wagens, sie fand es seltsam, dass ihr Entführer noch nicht aufgetaucht war.
Nirgends konnte sie einen Weg nach draußen entdecken, und so richtete sie ihren Blick auf die Zementdecke. Der Haken, an dem der Eimer gehangen hatte, war in ein dunkleres Viereck geschraubt. Sie stand jetzt gebeugt darunter und untersuchte es akribisch. Es war eine Sperrholzplatte, die etwa sechzig mal sechzig Zentimeter maß und an einer Seite mit Scharnieren an der Decke befestigt war. Vorsichtig klopfte sie die Platte ab, laut schlagen wollte sie nicht, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.
Was, wenn sie diese Klappe öffnete und er sie direkt erwartete?
Was blieb ihr übrig, als es zu versuchen?
Mit ihren Fingernägeln versuchte sie, unter das Holz zu gelangen. Verzweifelt blickte sie sich nach etwas um, das ihr dabei helfen konnte. Der Henkel des Eimers war zu schmal. Sie brauchte irgendein anderes Werkzeug. Ein Messer
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